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VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 03.04.2017 - 2 A 235/16 HAL - asyl.net: M24957
https://www.asyl.net/rsdb/M24957
Leitsatz:

1. Flüchtlingsanerkennung aufgrund der Gefahr einer (nichtstaatlichen) Verfolgung durch den Islamischen Staat (IS) bei Rückkehr nach Syrien (Provinz Deir al Zour), da die Asylantragstellung und der Auslandsaufenthalt als IS-feindliche Gesinnung gewertet werden könnten. Aufgrund der Kriegssituation in Syrien steht ein schutzbereiter Dritter nicht zur Verfügung.

2. Zudem stellt die drohende Einziehung zum Militärdienst eine staatliche Verfolgung dar.

3. Im Übrigen droht bei Rückkehr nach Syrien die Gefahr der Folter aufgrund unterstellter regimefeindlicher Gesinnung wegen Militärdienstverweigerung (mit Verweis auf VGH Bayern, Urteil vom 12.12.2016, 21 B 16.30372, asyl.net: M24739).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Deir al Zour, Deir ez-Zor, Islamischer Staat, Militärdienst, nichtstaatliche Verfolgung, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Flüchtlingsanerkennung, Reservisten, Folter, Asylantragstellung, IS, ISIS, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

In Anwendung dieser Grundsätze und der zugrunde zulegenden Erkenntnismittel droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im vorgenannten Sinne. Mit Blick auf die vorliegenden Erkenntnismittel, geht das Gericht davon aus, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr Verfolgung im vorgenannten Sinn durch den IS als nichtstaatlichen Akteur drohte. Dabei stellt das Gericht zunächst auf die Herkunftsprovinz des Klägers, also Deir ez-Zor (andere Schreibweise in der Asylakte), ab.

Der IS bestraft die Betreffenden schwer bei tatsächlicher oder vermeintlicher Infragestellung seines Herrschaftsanspruchs oder bei Verstoß gegen die von ihm aufgestellten Regeln, die auf einer strengen Auslegung der Scharia beruhen, einschließlich öffentlicher Hinrichtung, Auspeitschung und Verstümmelung ohne die Möglichkeit auf ein (faires) Gerichtsverfahren (vgl. nur UNHCR, a.a.O., S. 10 f.; Rule of Terror: Living under ISIS in Syria, 19.11.2014, S. 4; U.S. Department of State, a.a.O., S. 3, 10). Angesichts der aktuellen Erkenntnisse über die hemmungslose Gewaltanwendung des IS gegenüber Personen, die anderen Glaubens sind bzw. sich den vom IS vorgegebenen Regeln nicht vorbehaltlos unterwerfen, ist aus der Perspektive eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger die Furcht vor Verfolgung begründet.

So geht aus den Berichten der unabhängigen UN-Untersuchungskommission und mehrerer Menschenrechtsorganisationen auch hervor, dass IS-Mitglieder an Folter, Mord, Vergewaltigung, sexueller Sklaverei, sexueller Gewalt und Zwangsvertreibungen im Rahmen der Angriffe gegen die Zivilbevölkerung in den vom IS kontrollierten Gouvernements beteiligt sind (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, S. 10; Rule of Terror: Living under ISIS in Syria, 19.11.2014, S. 4). Die unabhängige UN-Untersuchungskommission und andere Quellen berichten, dass die Zivilbevölkerung willkürlichen Angriffen durch den IS ausgesetzt ist, der dabei Mörser, Raketen, Autobomben und Selbstmordattentäter einsetzt. Wenn der Herrschaftsanspruch vom IS vermeintlich oder tatsächlich infrage gestellt oder gegen die vom IS aufgestellten Regeln, die auf einer strengen Auslegung der Scharia beruhen, verstoßen wird, führt dies Berichten zufolge zu schwerer Bestrafung, einschließlich öffentlicher Hinrichtung, Auspeitschung und Verstümmelung ohne ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung, November 2015, S. 10). Die Flucht aus dem Gebiet des IS und die Beantragung von Asyl in einem westlichen Staat dürfte nach dem Vorstehenden mit der erforderlichen Beachtlichkeit vom IS als ein gegen diesen und dessen Ziele gewendetes Verhalten aufgefasst werden und die Kläger hierdurch der begründeten Furcht vor Verfolgung aussetzen.

Dass das Gebiet Deir ez-Zour vom IS besetzt ist, ergibt sich zudem aus den interaktiven Karten zum syrischen Bürgerkrieg (openstreetmap, wikipediamap, Gegenstand der Erkenntnismittelliste).

Deshalb ist davon auszugehen, dass für den Kläger in seiner Heimatstadt die beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung durch den IS bei einer Rückkehr aus einem westlichen Staat nach Syrien besteht.

Mit den vorliegenden Erkenntnismitteln steht für den Kläger ein schutzbietender Dritter aufgrund der Kriegssituation nicht zur Verfügung (§ 3d AsylG). In dem Gouvernement Hasaka sowie Deir ez-Zor konnten die Regierungstruppen wie auch die YPG seit dem vergangenen Jahr zwar auch immer wieder Erfolge verzeichnen, eine vollständige und dauerhafte Verdrängung des IS und auch anderer Rebellengruppen ist bisher aber weder gelungen, noch steht diese in Aussicht.

Dem Kläger steht auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e AsylG offen, wobei hier dahinstehen kann, inwieweit er dort keine begründete Furcht vor Verfolgung haben muss. Zum einen ist bereits fraglich, ob der Kläger einen sicheren Zufluchtsort aufgrund der militärischen Auseinandersetzungen sicher erreichen kann. Zum anderen dürfte dem Kläger insbesondere wegen des in Syrien bestehenden permanenten Vertreibungsdrucks ein Ausweichen in einen andere Landesteil nicht zumutbar sein, weil vernünftiger Weise nicht erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (vgl. UNCHR, a.a.O., S. 6 ff.; U.K. Home Office, Country Information and Guidance, Syria: the Syrian Civil War, Stand: August 2016, S. 7).

Zudem droht dem Kläger wegen seiner Verweigerung des Militärdienstes Verfolgung durch den syrischen Staat i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG: Verfolgung ist danach auch die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, in dem der Militärdienst Verbrechen, oder Handlungen umfassen würde, die als Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu qualifizieren wären (Ausschlussklausel nach § 3 Abs. 2 AsylG; vergleiche insoweit auch Art. 9 Abs. 2e, 12 Abs. 2a der Qualifizierungsrichtlinie).

Nach den zugrunde zulegenden Erkenntnismitteln der Kammer droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im vorgenannten Sinne. Denn Ihm droht im Falle seiner Rückkehr seine Einziehung zum Wehrdienst; (auch) insoweit stehen ihm Nachfluchtgründe nach § 28 AsylG zu. In Syrien müssen männliche Staatsangehörige entsprechend dem Artikel 40 der syrischen Verfassung ab 18 Jahren einen obligatorischen Militärdienst leisten. Die Verpflichtung zum obligatorischen Militärdienst sind im National Service Act von 1953 festgehalten. Syrische Männer müssen sich im Alter von 18 Jahren für den Militärdienst registrieren und sind bis zum Alter von 42 wehrpflichtig.

In Syrien müssen männliche Staatsangehörige entsprechend dem Artikel 40 der syrischen Verfassung ab 18 Jahren einen obligatorischen Militärdienst leisten. Die Verpflichtungen zum obligatorischen Militärdienst sind im National Service Act von 1953 festgehalten. Syrische Männer müssen sich im Alter von 18 Jahren für den Militärdienst registrieren und sind bis zum Alter von 42 Jahren wehrpflichtig (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28. März 2015, Seite 1; www.fluechtlingshilfe.chlassets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf; Seite 1, Fußnote 4, unter Bezugnahme auf: SFH, Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30. Juli 2014: www.fluechtlingshilfe.chlassets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrienrekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf). Auch wenn die obligatorische Wehrpflicht gilt, haben sich in den Jahren seit dem Ausbruch des Krieges tausende syrische Männer dem Militärdienst entzogen oder sind desertiert (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28. März 2015, Seite 1; www.fluechtlingshilfe.chlassets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-mobilisierung.pdf).

In dem o.g. Bericht heißt es wörtlich wie folgt:

"Seit Herbst 2014 ergriff das syrische Regime verschiedene Maßnahmen, um die durch Desertion und Verluste dezimierte syrische Armee zu stärken. Seither kommt es zu grossflächiger Mobilisierung von Reservisten, Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bis anhin dem Militärdienst entzogen haben. Zudem ergriff das syrische Regime neue Maßnahmen, um gegen Desertion und Wehrdienstentzug anzukämpfen. Alle werden mobilisiert. Dort wo die syrische Regierung die Kontrolle hat, sind die administrativen Strukturen noch intakt und wehrdienstpflichtige Männer erhalten Einberufungsbefehle. Auch intern Vertriebene werden an ihren neuen Aufenthaltsorten registriert und in den Militärdienst aufgeboten. Prinzipiell rekrutiert das syrische Regime alle Männer unabhängig vom ethnischen oder religiösen Hintergrund. Sunniten werden jedoch häufig nicht auf wichtigen Positionen, sondern nur für administrative Aufgaben eingesetzt. Es kommt vor, dass junge Männer nach einem Waffenstillstand zwischen der Regierung und einer Oppositionsgruppe direkt den syrischen Sicherheitsdiensten übergeben und in den Militärdienst einberufen werden.

(...) Zusätzlich zur Mobilisierung der Reservisten intensivierte das Regime die Suche nach Refraktären, jungen Männern, die sich dem Militärdienst entzogen haben. Es wurden mobile Checkpoints errichtet und die Sicherheitsdienste führten anhand von Listen, die auch an Checkpoints und an der Grenze genutzt werden, Razzien durch. Diese Maßnahmen wurden in allen vom Regime kontrollierten Gebieten durchgeführt, von Aleppo im Norden bis nach Daraa im Süden des Landes und von Latakia und Tartus an der Küste bis nach al Hasaka im Osten des Landes. Bereits in den ersten sieben Monaten des Jahres 2014 dokumentiert das Syrian Network for Human Rights über 5.400 Verhaftungen von wehrdienstpflichtigen jungen Männern. Zusätzlich zur Überprüfung junger Männer an Checkpoints führten Sicherheitskräfte auch Razzien in Bussen, Cafés und in Wohnquartieren durch. Wie bereits von der SFH beschrieben, werden Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, inhaftiert und verurteilt. In Haft kommt es zu Folter und Menschenrechtsorganisationen berichten über Exekutionen von Deserteuren. Auch Familienangehörige werden verhaftet oder von den syrischen Behörden unter Druck gesetzt. Männer, die von den Sicherheitsdiensten aufgegriffen werden, werden meistens vom militärischen Sicherheitsdienst oder dem Luftwaffen-Sicherheitsdienst verhaftet. Einige werden vor das Militärgericht al-Qaboun in Damaskus gestellt. Das Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) hat bei beiden Sicherheitsdiensten Fälle von Folter dokumentiert. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt. Viele Männer, die im Rahmen dieser Maßnahmen einberufen werden, erhalten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und werden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt. Es ist nach wie vor möglich, sich der Einberufung in den Militärdienst zu entziehen. Gemäß dem ISW verlangen Milizen der National Defense Force, die Checkpoints für die Regierung bewachen, bis zu 600.000 syrische Pfund (3.300 US-Dollar) von den Einberufenen, damit sie sich vom Militärdienst freikaufen können ".

Zusätzlich zur Überprüfung junger Männer an Checkpoints führten Sicherheitskräfte auch Razzien in Bussen, Cafés und in Wohnquartieren durch. Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst entzogen haben, werden inhaftiert und verurteilt. In Haft kommt es u.a. zu Folter, teilweise berichten Menschenrechtsorganisationen auch über Exekutionen von Deserteuren (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4). Folgen der Entziehung vom Militärdienst können nach den Erkenntnisquellen Haft, Isolationshaft, Folter, lebenslange Gefängnisstrafen bis hin zur Todesstrafe sein (Danish Immigration Service, a.a.O., S. 19; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 12). Recherchen von Amnesty International haben zudem ergeben, dass das syrische Regime sowohl Fahnenflüchtlinge als auch diejenigen als Gegner des Regimes betrachtet, bei denen lediglich die Absicht der Desertion vermutet wird. Diese sehen sich - ebenso wie andere tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner - gewaltsamem Verschwinden, Haft sowie Folter und unmenschlichen Haftbedingungen bis hin zum Tod ausgesetzt, ohne dass sie die Chance auf eine anwaltliche Beratung oder ein faires gerichtliches Verfahren haben (vgl. Amnesty International: Between Prison and Grave - Enforced Displacement in Syria, Stand: November 2015, S. 8, 44). Die Betreffenden werden in eines der Haftzentren des Landes verbracht, die von den militärischen und politischen Geheimdiensten betrieben werden, und leben dort unter menschenunwürdigen Bedingungen ohne ausreichende Versorgung mit Nahrung, Wasser und Medizin (Amnesty International, a.a.O., S. 8; Human Rights Watch: If the Dead could speak, 2015, S. 8). Die Gefangenen werden regelmäßig diversen Foltermethoden ausgesetzt (wie vor; Danish Immigration Service, a.a.O., S. 19), ohne dass sie Zugang zu einem Anwalt oder einem fairen gerichtlichen Verfahren erhalten (vgl. Amnesty International, a.a.O., S. 8).

Überdies dürfte die Flüchtlingseigenschaft nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch deshalb zuzuerkennen sein, weil der Kläger bei einer Rückkehr von den staatlichen Sicherheitskräften in Anknüpfung an eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung als Oppositioneller behandelt werden dürfte und ihm beachtlich wahrscheinlich Folter droht (Bayerischer VGH, Urteil vom 12. Dezember 2016, 21 B 16.30372, zitiert aus juris). [...]