VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 19.04.2017 - 2 A 312/16 - asyl.net: M25050
https://www.asyl.net/rsdb/M25050
Leitsatz:

Zuerkennung subsidiären Schutzes für eine sunnitische Familie aus dem Irak, da in der Provinz Bagdad ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, die Familie durch schiitische Milizen bedroht wurde und es keine innerstaatliche Fluchtalternative gibt.

(Leitsatz der Redaktion).

Schlagwörter: Irak, Sunniten, subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, interne Fluchtalternative, Autonome Region Kurdistan, extreme Gefahrenlage, interner Schutz, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

Im Irak, insbesondere in der Provinz Bagdad, der Herkunftsregion der Kläger, herrscht ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Im Jahr 2014 verzeichnete der Irak eine rapide Expansion des sogenannten "Islamischen Staat im Irak und in Syrien" (IS) in viele Gebiete im Nord- und Zentralirak, was zu einer erneuten Eskalation des Konflikts im Irak und einem Anstieg der Gewalt führte (vgl. Positionspapier des UNHCR zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016). Seit Juni 2014 wird der IS von verschiedenen Irakischen wie internationalen Akteuren bekämpft, was bewaffnete Auseinandersetzungen in den Provinzen Anbar, Babil, Bagdad, Diyala, Ninawa, Salah al-Din und Kirkuk sowie auch an den Rändern der Region Kurdistan-Irak zur Folge hat. Seit Ende Juli 2015 führt die Türkei Luftschläge gegen IS-Stellungen in Syrien und im Norden Iraks durch und nimmt dabei auch PKK-Stellungen in der Region Kurdistan-Irak ins Visier. Auch das iranische Militär führte Anti-Terror-Operationen mit erheblichen militärischen Mitteln (Luftangriffe bzw. Artilleriebeschuss) auf irakischem Boden durch. Die territoriale Zurückdrängung des IS im Laufe des Jahres 2016 hat die Zahl der terroristischen Anschläge in den genannten Provinzen nicht wesentlich verringert, in manchen Fällen sogar eine asymmetrische Kriegsführung des IS mit verstärkten terroristischen Aktivitäten provoziert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 07.02.2017, Stand Dezember 2016).

Aufgrund dieses innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht den Klägern auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit als Zivilpersonen im Irak. [...]

Der anhaltende Konflikt und die Gewaltausbrüche im Irak haben verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Seit der Invasion der Alliierten im Jahr 2003 war der Irak nie frei von gewalttätigen Auseinanderersetzungen, und auf dem Höhepunkt des religiösen Konflikts 2006/2007 erreichten die Todeszahlen ihren Höchststand. Zwischen 2010 und 2012 ging die Gewalt im Irak zurück. Berichten zufolge ist die Zahl der zivilen Opfer seit Mitte 2013 im Vergleich zu den Vorjahren wieder angestiegen. 2014 und 2015 erreicht die Zahl ihren Höchststand seit dem Höhepunkt des religiösen Konflikts bei 2006/2007. 2016 ist die Zahl der zivilen Opfer noch immer hoch. Aus den Statistiken der Hilfsmission der Vereinten Nationen für Irak (UNAMI) geht hervor, dass die Provinz Bagdad in jedem Monat der Jahre 2014, 2015 und 2016 mehr zivile Todesopfer als jede andere Provinz zu verzeichnen hatte. Dahinter folgen, wenn auch nicht immer in der gleichen Reihenfolge, die Provinzen Anbar, Diyala, Kirkuk, Salah al-Din und Babil. Vor dem Beginn der militärischen Offensive zur Wiedereroberung von Mossul warnte die Koordinatorin der Vereinten Nationen für die humanitären Maßnahmen im Irak, dass die humanitären Auswirkungen der Militärkampagne gegen IS in Mossul "verheerend" sein würden und "wahrscheinlich massenweise Opfer unter der Zivilbevölkerung" zu erwarten seien. Trotz massiver Sicherheitsvorkehrungen der Regierung zum Schutz vor einem Einmarsch von IS sind sowohl die Stadt Bagdad als auch die umgebende Provinz Hauptangriffsziel für regelmäßige Terroranschläge, die häufig, jedoch nicht ausschließlich, gegen schiitische Zivilpersonen gerichtet sind. Allerdings sind Zivilpersonen jeglicher Herkunft von solchen Anschlägen betroffen, da in Bagdad nahezu alle Gebiete mit dieser Art von Gewalt konfrontiert sind. Den Meldungen zufolge hat sich der IS zu zahlreichen regelmäßigen Angriffen auf militärische und zivile Ziele In Bagdad und anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten bekannt, einschließlich Autobomben, Selbstmordattentaten, Straßenrandbomben, Mörsern und Granaten. In einigen Fällen wurde gemeldet, dass der IS Raketen mit Chlor und Senfgas auf die Zivilbevölkerung und Sicherheitskräfte abgefeuert hat. Während Berichten zufolge einige Angriffe auf die Sicherheitskräfte gerichtet sind, richten sich andere Anschläge offensichtlich gezielt gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich Anschlägen auf Moscheen, Marktplätze, Restaurants und Spielplätze, die sich oft in mehrheitlich schiitischen Bezirken oder Städten befinden. Angesichts seiner territorialen Einbußen richtet er seine Angriffe zunehmend gegen die Zivilbevölkerung in den Gebieten, die unter der Kontrolle der Regierung oder der Regionalregierung von Kurdistan (KRG) stehen (Positionspapier des UNHCR zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016). Rund 17 Millionen Menschen (53 % der irakischen Bevölkerung) sind von Gewalt betroffen (Auswärtiges Amt, a.a.O.). [...]

Ausweislich des Berichts des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 07.02.2017 wurden als Reaktion auf den Vorstoß des IS auch viele Milizen im Irak wieder mobilisiert, wobei die Milizen eine ambivalente Rolle haben. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit eigenen Interessen dar, die sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und der Politik widerspiegeln und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beitragen. Auch üben Milizen immer wieder Gewalttaten gegen Zivilisten aus, wobei Gewalttaten oft straflos bleiben. Die irakischen Sicherheitskräfte sind nicht in der Lage, den Schutz der Bürger sicherzustellen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert; ohnehin gibt es kein Polizeigesetz. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Diese Schwäche der irakischen Sicherheitskräfte erlaubt es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den von Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa'ib Ahl a-Haq und Kata'ib Hisbollah, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Mit dem am 26.11.2016 verabschiedeten Gesetz über die Volksmobilisierung wurde zwar der Versuch unternommen, einen Teil der Milizangehörigen in Strukturen unter dem formalen Oberbefehl des Premierministers zu überführen und einen Teil unter Zahlung eines Existenzminimums zu demobilisieren. Der Ausgang dieses Experiments ist jedoch völlig offen. [...]

Zu den Schilderungen der Klägerin zu 1.) passt auch der Bericht des UNHCR in seinem Positionspapier zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, nach dem Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte und ihrer verbündeten Gruppen auch an Rechtsverletzungen gegenüber sunnitisch-arabischen und sunnitisch-turkmenischen Zivilpersonen beteiligt waren, einschließlich Vergehen an der flüchtenden Zivilbevölkerung, an Binnenvertriebenen und Rückkehrern aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung oder Zusammenarbeit mit dem IS. Zu den gemeldeten Rechtsverstößen zählen willkürliche Festnahmen und Entführungen, Verschwindenlassen von Personen, körperliche Misshandlungen, außergerichtliche Hinrichtungen und Zwangsvertreibungen. In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, ist von Plünderungen und der willkürlichen Inbrandsetzung und Zerstörung von Wohnhäusern, Geschäften und Moscheen berichtet worden. Ferner wurde gemeldet, dass die irakischen Sicherheitskräfte Frauen festnehmen und für angebliche terroristische Aktivitäten männlicher Familienangehöriger verantwortlich machen. Die Wiedereinnahme von Gebieten, die unter IS-Kontrolle standen, ist von Vergeltungsmaßnahmen gegen sunnitische Gemeinden begleitet, der ihnen auf die kollektive Unterstützung von IS bzw. die Kollaboration unterstellt wird. Völlig ungestraft haben PMU-Milizen und In einigen Fällen auch Sicherheitskräfte im Rahmen offensichtlicher Vergeltungsmaßnahmen für die grausamen IS-Verbrechen Hunderte sunnitische Männer getötet, verschwinden lassen und gefoltert und die IS-Verbrechen als Vorwand für die zwangsweise Umsiedlung sunnitischer Gemeinden und zur Verhinderung der Rückkehr sunnitischer Binnenvertriebener benutzt (Rn. 13). Sunnitisch-arabische Männer und Jungen werden allgemein als Unterstutzer des IS angesehen (Rn. 20). Berichten zufolge wurden sunnitisch-arabische Familien außerdem von kurdischen Sicherheitskräften zwangsweise umgesiedelt und aus ihren Heimatorten vertrieben. Angeblich erfolgten die Umsiedlungen zur Sicherheit der Betroffenen, doch wurden diese nunmehr in unmittelbarer Nähe der Front angesiedelt (Rn. 42). So wurde berichtet, dass in Anwar, Bagdad, Babil, Java, Kirkuk und anderen Gebieten Bedrohungen Belästigungen, Entführungen, willkürliche Verhaftungen, Zwangsvertreibungen und Tötungen sunnitisch-arabischer Binnenvertriebener sowohl durch staatliche als auch durch nichtstaatliche Akteure stattfinden. In Bagdad wurde gemeldet, dass sunnitische Binnenvertriebene gedrängt wurden, aus schiitischen und gemischten sunnitisch-schiitischen Wohngebieten auszuziehen. Darüber hinaus wurde berichtet, dass Männer und Jugendliche ab 15 Jahren unter Druck gesetzt worden, bewaffneten Stammesgruppen zur Bekämpfung des IS beizutreten, um nicht für IS-Anhänger gehalten zu werden (Rn. 26). [...]

Durch einen Umzug innerhalb des Irak können die Kläger körperlichen Repressalien durch die Al Mahdi-Armee bzw. der Miliz bis hin zur Tötung und der Kläger zu 2.) einer Zwangsrekrutierung nicht entgehen. Zunächst ist festzustellen, dass die irakischen Sicherheitskräfte landesweit nicht in der Lage sind, den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Auf die Ausführungen unter Punkt 1 a) wird insoweit verwiesen.

Zudem hat die Klägerin zu 1.) glaubhaft geschildert, dass ein Wohnortwechsel gegenüber den zuständigen Behörden anzuzeigen ist und dass die Informationskarte, bei der es sich um eine Anmeldebestätigung für den Wohnort handelt, im Irak mittlerweile wichtiger ist als der Personalausweis. Dazu passt, dass die örtlichen Behörden angesichts der Massenvertreibungen von Menschen aus Konfliktgebieten in vergleichsweise sichere Gebiete des Landes seit 2014 und.des entsprechend hohen Bedarfs an humanitärer Hilfe in vielen dieser Gebiete zunehmend strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen aufgestellt haben, die unter anderem an den Nachweis eines Bürgen geknüpft sind. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestattet. In mehreren Gebieten haben die örtlichen Behörden nahezu vollständige Einreisestopps für Flüchtlinge aus Konfliktgebieten verhängt, einschließlich der Provinzen Bagdad, Babel und Kerbala. Die meisten anderen Provinzen knüpfen die Einreise bzw. den Aufenthalt von Binnenvertriebenen an zunehmend strenge Voraussetzungen, die je nach Gegend variieren, jedoch häufig die Vorlage einer Bürgschaft, die Meldung bei den örtlichen Behörden und eine erfolgreiche Sicherheitsüberprüfung durch verschiedene Sicherheitsbehörden beinhalten. Diese Regelungen betreffen vor allem sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die aus den vom IS: kontrollierten Gebieten fliehen und als Sicherheitsrisiko angesehen werden. Berichten zufolge werden ihnen auf der Grundlage pauschaler und diskriminierender Kriterien auch der Zugang zu relativ sicheren Gebieten und der dortige Aufenthalt verwehrt. (UNHCR, a.a.O., Rn. 5, 21).

Da die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren aufgrund der staatlichen Akzeptanz, teilweisen Führung und Bezahlung der Milizen verschwimmt, die Milizen Politik und Verwaltung mithin unterwandert haben, und es sich bei der Asa'ib Ahl al-Haq um eine der drei größten und einflussreichsten Milizen mit eigenen politischen Interessen und von ihnen entwickelten Parallelstrukturen handelt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 07.02.2017), besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass diese die Kläger aufgrund der geschilderten Meldepflichten jedenfalls bei einem Umzug innerhalb Bagdads in kurzer Zeit ausfindig machen würden.

Auch eine Migration in die Autonome Region Kurdistan kommt nicht in Betracht. Wie bereits oben dargestellt wurde, haben Personen, die aus den von IS kontrollierten Gebieten im Nord- und Zentralirak fliehen, nur eingeschränkten Zugang zu vergleichsweise sicheren Gebieten in anderen Landesteilen, da strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen bestehen, die unter anderem an den Nachweis eines Borgen geknüpft sind. Den Beschränkungen liegen oft diskriminierende Kriterien zugrunde, mit denen den Binnenvertriebenen der Zugang zu relativ sicheren Gebieten und der dortige Aufenthalt verwehrt werden. [...]