OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 24.09.2001 - 9 LB 3662/01 - asyl.net: M2521
https://www.asyl.net/rsdb/M2521
Leitsatz:

Gefährdung wegen Asylantrag und Auslandsaufenthalt; regelmäßig keine inländische Fluchtalternative im Nordirak.

(Leitsatz der Redaktion)

Es ist daran festzuhalten, dass die Asylantragstellung eines irakischen Staatsangehörigen im Ausland und der unerlaubte Auslandsaufenthalt im Falle der Rückkehr in sein Heimatland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung durch den irakischen Zentralstaat mit sich bringen (wie Urt. des Senats vom 8.9.1998 - 9 L 2142/98).

Ein lediger, arbeitsfähiger und männlicher Kurde kann trotz Fehlens gesellschaftlich- familiärer Bindungen im Nordirak eine inländische Fluchtalternative finden (Änderung der Rechtsprechung des Senats). (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Irak, Zentralirak, Kurden, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Auslandsaufenthalt, Aufenthaltsdauer, Amnestie, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum, Versorgungslage, Soziale Bindungen, Hilfsorganisationen, Flüchtlingslager, Unterbringung, Alter, Geschlecht
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53; IrakDekret Nr. 110 vom 28.6.1999
Auszüge:

Es ist daran festzuhalten, dass die Asylantragstellung eines irakischen Staatsangehörigen im Ausland und der unerlaubte Auslandsaufenthalt im Falle der Rückkehr in sein Heimatland mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung durch den irakischen Zentralstaat mit sich bringen (wie Urt. des Senats vom 8.9.1998 - 9 L 2142/98).

Ein lediger, arbeitsfähiger und männlicher Kurde kann trotz Fehlens gesellschaftlich- familiärer Bindungen im Nordirak eine inländische Fluchtalternative finden (Änderung der Rechtsprechung des Senats). (amtliche Leitsätze)

Die neueren Erkenntnismittel rechtfertigen nicht die Änderung der langjährigen Rechtsprechung des Senats zur asylrechtlichen Bedeutung der Asylantragstellung und des illegalen Auslandsaufenthaltes. Eine Sicherung vor Verfolgung aufgrund des Dekretes des Revolutionären Kommandorates Nr. 110 vom 28.06.1999 nimmt nämlich weder das Deutsche Orient-Institut noch das Auswärtige Amt an. Dabei ist für das Deutsche Orient- Institut maßgebend, dass in der Vergangenheit ausgegebene Amnestien nicht eingehalten worden sind (Stellungnahme vom 24.7.2000 für VG Arnsberg und vom 5.9. und 31.10.2000 für VG Osnabrück). Das Auswärtige Amt hat in der Vergangenheit auch stets auf das willkürliche und unsystematische Vorgehen der irakischen Justiz und der Sicherheitsdienste hingewiesen und vor einer Überschätzung irakischer Amnestiegesetze gewarnt (so noch der Lagebericht vom 3.9.2001; ferner AA vom 13.6.1997 an VG Freiburg; vom 25.5.1998 an VG Aachen). Dass das IKRK demgegenüber unter Verweis auf das Amnestiedekret von 1999 zur Rückkehr in den Irak aufruft und dem Dekret offensichtlich Glaubwürdigkeit beimisst, veranlasst zu keiner anderen Betrachtungsweise ebenso wenig wie der Umstand, dass den UNHCR in Bagdad und dem IKRK in Bagdad keine Erkenntnisse über strafrechtliche Verfolgungen von freiwillig zurückgekehrten Flüchtlingen vorliegen. Denn Anhaltspunkte dafür, ob und inwieweit die Erkenntnisse des UNHCR und des IKRK bezüglich der irakischen Flüchtlinge aus Iran überhaupt auf irakische Staatsangehörige, die aus den westlichen, nämlich dem in diesem Sinne eigentlich feindlichen Ausland in den Irak zurückkehren, übertragbar sind, sind nicht ersichtlich. Vielmehr spricht der Umstand, dass zwischen dem Iran und dem Irak im März 2001 ein Abkommen über die wechselseitige Rückkehr von Flüchtlingen geschlossen worden ist, für das Gegenteil.

Die - eher - akademische Frage der Bedeutung der Asylantragstellung zum illegalen Auslandsaufenthalt gerade im westlichen Ausland wird auch dadurch relativiert, dass häufig der Auslandsaufenthalt eines irakischen Asylbewerbers in der Bundesrepublik Deutschland "langjährig" ist, er sich jedenfalls regelmäßig als "zu lang" erweist. Dies folgt aus den übereinstimmenden, wenn auch vom Senat im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht protokollierten Erklärungen der beiden Sachverständigen B. und S. bei ihrer Anhörung. Beide sehen einen Auslandsaufenthalt von - wie im Falle des Klägers - über einem Jahr unstreitig als einen "längeren" Auslandsaufenthalt an, der zu den angeführten und asylrechtlich beachtlichen Erklärungsnöten führt. Toleriert wird von den irakischen Zentralbehörden nur ein "normaler" Auslandsaufenthalt mit kürzeren Laufzeiten, etwa ein häufig vorkommender 3-monatiger Aufenthalt in den Nachbarländern, insbesondere in Jordanien. Dieser kann bis zu einem halben Jahr, ausnahmsweise in bestimmten Einzelfällen bis zu einem drei Viertel Jahr reichen, nicht aber darüber hinaus. Damit ist der Auslandsaufenthalt im westlichen Ausland regelmäßig - wie auch im Fall des Klägers - in dem Sinne langjährig und asylrechtlich von Bedeutung.

Die Gesamtbewertung der Verhältnisse in den Flüchtlingslagern durch den Senat führt zu dem Ergebnis, dass unter den zurzeit gegebenen Bedingungen der Nordirak nicht generell als eine inländische Fluchtalternative auch für die Zentraliraker anzuerkennen ist, die nicht über das sozial-familiäre, gesellschaftliche und/oder politische Beziehungsgeflecht vor Ort verfügen. Der Senat folgt insbesondere nicht der Auffassung des OVG Magdeburg in seinem Urteil vom 6.12.2001 (aaO). Die den Flüchtlingen in den Flüchtlingslagern gebotenen Hilfsleistungen, also vorrangig die Lebensmittelpakete mit dem auf Grundnahrungsmittel beschränkten Warenkorb als auch die unzureichende und weitgehend notdürftigste Unterbringung, lassen nicht die Annahme zu, dass den Flüchtlingen das für ein menschenwürdiges Leben erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum jedenfalls auf eine absehbare Dauer zur Verfügung steht. Zwar ist das Bemühen der internationalen Organisationen um eine Verbesserung der Flüchtlingssituation anzuerkennen; es lindert auch großes Leid. Bei der gebotenen generalisierenden Betrachtung ist aber sowohl die Versorgung mit Lebensmitteln als auch die Unterbringung als unzureichend zu bewerten. Die zur Verfügung gestellte Grundversorgung mit Nahrungsmitteln führt zu Unter- und Fehlernährung. Der Warenkorb (Durchschnittswert der monatlichen Ration für eine ganze Familie ca. 6 Dollar) besteht ausschließlich aus Weizenmehl, Reis, Hülsenfrüchte, Speiseöl, Milchpulver, Tee, Zucker, Salz, Waschpulver, Seife und für Kleinkinder bis zu einem Jahr auch Baby-Milchpulver. Der Warenkorb enthält kein Fleisch, keine Eier, kein Gemüse und kein Obst und auch sonst nichts Frisches (Stellungnahme des Deutschen Orient- Instituts v. 3.4.2002 an VG Greifswald). Durch die Lebensmittelpakete können täglich etwa 2200 kcal pro Tag/Person bereitgestellt werden. Der Grundumsatz (auch Erhaltungs- bzw. Ruheumsatz), also das niedrigste Stoffwechselniveau, auf dem der Organismus gerade noch normal funktioniert (Schade, Medizin und Gesundheit, 2001), liegt bei einer erwachsenen Person (schwankend u. a. nach Alter und Geschlecht) durchschnittlich bei ca. 1600 kcal. Schon bei nur leichter Betätigung erhöht sich der Energieumsatz auf 2300 bis 2500 kcal, bei körperlicher Arbeit geht er über 3500 kcal hinaus (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Aufl. 1998, Stichworte: Grundumsatz und Energieumsatz). Der Warenkorb deckt damit nicht einmal den "normalen" Bedarf ab (Deutsches Orient-Institut, aaO: er "reicht nicht für den ganzen Monat" bzw. ist "in weniger als einem Monat verbraucht"). Die Lebensumstände sind zu umschreiben mit: hungern, aber nicht verhungern.

Der durchschnittliche Flüchtling hat auch keine Möglichkeiten, seine Grundversorgung durch Tausch, Handel oder Arbeit zu verbessern. Hinzu kommt die notdürftige Unterbringung im Regelfall in Zelten und Behelfsbauten, die schlechte medizinische, sanitäre und sonstige Versorgung. Diese Lebensumstände lassen damit für sich nicht die Annahme zu, dass in den Flüchtlingslagern des Nordirak das notwendige Existenzminimum gewährleistet wird.

Der Senat bejaht allerdings die inländische Fluchtalternative für einen bestimmten Personenkreis, der durch die Kriterien ledig, arbeitsfähig, männlich und Kurde bestimmt wird.

Dazu zählt der Kläger. Die Anhörung des Gutachters B. hat ergeben, dass angesichts des "durchaus nennenswerten Aufschwungs in den letzten Jahren" im Nordirak diesem Personenkreis neben der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln über Hilfsprogramme der Vereinten Nationen weitere Möglichkeiten zur Verfügung stehen können. Arbeitsfähige, insbesondere also jüngere Männer haben danach die Möglichkeit, einen "Job" zu bekommen. Diesem Personenkreis eröffnet sich dadurch eine erweiternde Perspektive, eine Zukunftshoffnung, dem Alltag im Flüchtlingslager und damit der mangelhaften Versorgung sowie der Hoffnungslosigkeit allgemein zu entkommen bzw. ihre Lebenssituation zu verbessern. Im Gegenschluss daraus folgt, dass diese Möglichkeit einem verheirateten Kurden und erst Recht dem Vater einer Familie nicht zukommt. Es kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit angenommen werden, dass die Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme ausreichen, um damit auch die Ehefrau oder sogar eine Familie zu ernähren bzw. "durchzubringen". Aufgrund seiner familiären Bindungen und Verpflichtungen ist dem Verheirateten der Weg "nach außen" zudem wesentlich erschwert. Frauen und Kinder sind von der Arbeitsaufnahme ohnehin ausgeschlossen. Für sie stellen sich die schlechten Lagerbedingungen in besonderem Maße als unausweichlich und auf längere Sicht unerträglich dar. Die Möglichkeiten einer erträglicheren Lebensgestaltung stehen auch nur Kurden zur Verfügung. Insbesondere Araber, aber auch anderen Volksgruppen, bleiben davon ausgeschlossen, es sei denn, sie fallen unter besondere Förderungsprogramme. Allerdings besteht auch im Nordirak ein hoher Prozentsatz an Arbeitslosigkeit. Die Sachverständige S. hat im Termin zur mündlichen Verhandlung in Anbetracht dessen Zweifel ausgedrückt, ob überhaupt die Möglichkeit einer "Job-Suche" ohne Beziehungen erfolgreich sein könne. Angesichts des unstreitig im Nordirak festzustellenden wirtschaftlichen Aufschwungs, der überall anzutreffenden beachtlichen Bautätigkeit, sieht der Senat indes die Angaben des Sachverständigen B., ledige männliche Kurden könnten die unzureichende Grundversorgung mit Lebensmitteln aus eigener Kraft für sich selbst "aufbessern", als überzeugend und plausibel an.

Der Senat folgt aus den obigen Erwägungen nicht dem Urteil des VGH Baden- Württemberg vom 11.4.2002 (aaO). Anknüpfungspunkt dieser Entscheidung ist im Anschluss an das Urteil des BVerwG vom 9.9.1997 (- 9 C 43.96 - DVB11998, 274 = NVWZ 1999,308 = Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 196 = BVerwGE 105, 204) die Erwägung, dass das Asylrecht nicht vor der Rückführung in ein verfolgungssicheres Gebiet schützt, wenn die dort herrschende Notlage keine andere ist als die am Herkunftsort. Sind nämlich die geltend gemachten Beeinträchtigungen landesweit gegeben, so erleidet der Flüchtling aufgrund eines verfolgungsbedingten Ortswechsels innerhalb seines Herkunftsstaates keine unzumutbare Verschlechterung seiner (allgemeinen) Lebensumstände. Nach dem VGH Baden-Württemberg führt ein - offensichtlich abstrakter - Vergleich der einander gegenüberstehenden wirtschaftlichen Situationen wegen der inzwischen allgemein wirtschaftlich besseren Lage im Nordirak zu dem Ergebnis, dass der Nordirak generell als eine inländische Fluchtalternative anzuerkennen ist. Diese Betrachtung trägt aber der Realität in den Flüchtlingslagern nicht hinreichend Rechnung. Der im Vergleich zum Zentralirak festzustellende relative Aufschwung kommt nicht allen im Nordirak lebenden Menschen gleichermaßen zugute; dies gilt im besonderen Maße für die Bewohner der Flüchtlingslager. Abgesehen von der vom Senat angesprochenen Personengruppe der arbeitsfähigen und ledigen männlichen Kurden sind die in den Flüchtlingslagern unter schlechtesten Bedingungen lebenden Flüchtlinge gerade von der besseren wirtschaftlichen Lage im Nordirak ausgeschlossen.