OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 19.01.2017 - 3 A 77/16 - asyl.net: M25376
https://www.asyl.net/rsdb/M25376
Leitsatz:

1. Die Ausländerbehörde darf die Ausstellung eines Reiseausweises i.S.v. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK nicht verweigern, wenn trotz Ausschöpfung der behördlichen Aufklärungspflicht das Vorliegen zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit nicht bejaht werden kann (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 17. März 2004 - 1 C 1.03 -, juris).

2. Die Mitwirkungspflichten des § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gelten in Verfahren auf Ausstellung eines Reiseausweises nach Art. 28 Abs. 1 GFK im Hinblick auf das Vorliegen zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit nicht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Reiseausweis für Flüchtlinge, Sicherheitsgespräch, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Mitwirkungspflicht, günstige Umstände, Sachaufklärungspflicht,
Normen: GFK Art. 28, AufenthG § 82 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit stehen der begehrten Ausstellung des Ausweises nicht entgegen. Die zwingenden Gründe und die Entstehungsgeschichte des ordre public-Vorbehalts legen eine restriktive Auslegung nahe (BVerwG, Urt. v. 13. Dezember 2005 a.a.O.). Der Vorbehalt ist als Ausnahme von der Regel zu verstehen, dem Flüchtling durch die Ausstellung eines Reiseausweises grenzüberschreitende Reisen zu ermöglichen. Daher darf die Ausländerbehörde eine Ausstellung nicht verweigern, wenn trotz Ausschöpfung der behördlichen Aufklärungspflicht das Vorliegen zwingender Gründe nicht bejaht werden kann (zur Frage nicht aufklärbarer Identität des Flüchtlings vgl. BVerwG, Urt. v. 17. März 2004 a.a.O. Rn. 30 f. m.w.N.).

Solche Gründe sind vorliegend nicht feststellbar. Zwar trifft mit dem Verwaltungsgericht zu, dass die (fortdauernde) Unterstützung der PKK und ihrer Folgeorganisationen als dem Terrorismus zuzurechnender Vereinigungen (vgl. näher VGH BW, Urt. v.13. Januar 2016 - 11 S 889/15 -, juris Rn. 73 f.) einen solchen zwingenden Grund darstellen kann (BVerwG, Urt. v. 13. Dezember 2005 a.a.O. Rn. 21 ff. m.w.N.). Eine solche Unterstützung kann auch in dem Engagement für den der PKK nahestehenden K K...verein liegen, für das der Kläger im Jahr 2010 bestraft worden war. Allerdings müssen solche Gründe auch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch feststellbar sein (zu dem maßgeblichen Zeitpunkt einer Verpflichtungsklage auf Erteilung eines Aufenthaltstitels BVerwG, Urt. v. 16. Juni 2004 - 1 C 20.03 -, juris Rn. 11 m.w.N.; st. Rspr.). Dies ist hier nicht der Fall:

Abgesehen von der vorgenannten Verurteilung und zwei weiteren Ermittlungsverfahren gegen den Kläger, die eingestellt worden sind, hat das Landesamt die Teilnahme des Klägers an mehreren kurdenbezogenen Demonstrationen oder Veranstaltungen zwischen 2013 und 2014 mitgeteilt; jüngere Auskünfte wurden dem Beklagten trotz zeitnaher Nachfrage nicht erteilt. Weitere Ermittlungs- oder Strafverfahren gegen den Kläger sind weder mitgeteilt noch bekannt. Die vom Landesamt beobachteten Veranstaltungsteilnahmen sind von diesem als "Unterstützungshandlungen von geringer Intensität" eingeschätzt worden, so dass die bisher empfohlene Durchführung einer Sicherheitsbefragung nicht mehr erneuert, sondern deren Durchführung dem Beklagten anheimgestellt worden war. Zu weiteren entsprechenden Handlungen hat sich der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht geäußert. Damit ist davon auszugehen, dass der Kläger - abgesehen von der bereits abgeurteilten Unterstützung - bis 2014 an Veranstaltungen mit einem kurdischen Hintergrund teilgenommen, aber keine weiteren Unterstützungshandlungen begangen hat. In der damit allein nachweisbaren Teilnahme an den vorgenannten Veranstaltungen liegen aber keine zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit, da in der grundsätzlich zulässigen Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, die nicht untersagt worden sind und auch keinen erkennbaren Anlass für behördliche Maßnahmen gegeben haben, keine Gefahrenlage erkennbar ist. Die nach derzeitigem Kenntnisstand damit allein denkbare theoretische Möglichkeit, dass der Kläger für die (Strafverfolgungs-)Behörden und das Gericht unerkannt über die festgestellten Handlungen hinaus in strafwürdiger oder sicherheitsrelevanter Art und Weise eine verbotene Vereinigung unterstützt haben könnte, reicht nicht aus, um mit der erforderlichen Überzeugungsgewissheit eine Ausnahme von dem Regelfall der Ausweiserteilung bejahen zu können.

Daran ändert auch die Weigerung des Klägers nichts, an einer Sicherheitsbefragung teilzunehmen. Denn jedenfalls in Bezug auf das Verfahren auf Ausstellung eines Reiseausweises besteht schon keine Teilnahmepflicht. Dies ergibt sich aus Folgendem:

§ 82 AufenthG, der von Teilen der Rechtsprechung als Ermächtigungsgrundlage für eine entsprechende Verpflichtung oder als Grundlage für eine entsprechende Mitwirkungspflicht herangezogen wird (BayVGH, Beschl. v. 5. April 2014 - 10 ZB 14.1440 -, juris Rn. 11 m. w. N.), ist vorliegend nicht einschlägig. Dies folgt schon daraus, dass damit nur für den Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes oder von ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen Mitwirkungspflichten geregelt sind, die über die allgemeinen Mitwirkungsregeln des § 26 Abs. 2 Satz 1 VwVfG hinausgehen (vgl. dazu insb. § 26 Abs. 2 Satz 3 VwVfG). Vorliegend steht aber nicht die Erteilung des vom Kläger ebenfalls begehrten Aufenthaltstitels, sondern die Ausstellung eines Reisedokuments in Streit. Dass dies der Beklagte ebenso gesehen haben dürfte, ergibt sich daraus, dass er die Einladungen zu der Teilnahme an dem Gespräch genauso wie die Verpflichtung durch Bescheid nur für auf das parallel geführte Titelerteilungsverfahren, nicht aber für das der hier streitigen Ausweiserteilung ausgesprochen hatte.

Auch handelt es sich vorliegend nicht um für den Kläger günstige Umstände, auf die sich gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG die strengeren Mitwirkungspflichten beziehen. Denn - wie etwa bei einer Ausweisung (hierzu VGH BW, Beschl. v. 28. September 2010 - 11 S 1978/10 -, juris Rn. 8 m. w. N.) - muss hier nicht der Kläger, sondern der Beklagte das Vorliegen der den regelhaften Anspruch auf Ausweiserteilung vernichtenden Einwendung zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit nachweisen. [...]

Auch aus der Weigerung des Klägers, in der mündlichen Verhandlung auf die Fragen des Gerichts Stellung zu nehmen, folgt nichts anderes. [...]