OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.01.2002 - 19 A 3040/99.A - asyl.net: M2541
https://www.asyl.net/rsdb/M2541
Leitsatz:

Keine unmittelbare oder mittelbare Gruppenverfolgung von Christen in Pakistan; Staat ist grundsätzlich bereit, Schutz gegen Übergriffe gegen Christen zu gewähren. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, Christen (katholische), Gruppenverfolgung, Religiös motivierte Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Individualverfolgung, Übergriffe, MQM, Zurechenbarkeit, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Verfolgungsdichte, Strafverfolgung, Verfolgungsprogramm, Diskriminierung, Wahlrecht, Existenzminimum, Religiöses Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Extreme Gefahrenlage, D (A), Verfahrensrecht, Beweisantrag, Substantiierung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53; PPC Art. 295 C
Auszüge:

Die Kläger können sich nicht mit Erfolg auf Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG berufen. Sie sind nicht vorverfolgt aus Pakistan ausgereist und ihnen droht auch nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung bei einer Rückkehr in ihr Heimatland. Es kann dahinstehen, ob die vom Kläger zu 1. geschilderten Übergriffe von Moslems im Juli 1995, das behauptete Verhalten seiner - offenbar moslemischen - Vermieter seiner Buchhandlung und die Ausführungen zur angeblich drohenden Entführung der Klägerin zu 2. glaubhaft sind. Selbst wenn der Vortrag des Klägers zu 1. als wahr unterstellt wird, ergibt sich daraus weder eine erlittene individuelle Vorverfolgung der Kläger noch eine ihnen bei der Ausreise aus Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende (Einzel-) Verfolgung.

Die vom Kläger zu 1. geschilderten Übergriffe von Moslems, etwaige Rechtsverletzungen seiner Vermieter ihm gegenüber sowie die angeblich von Moslems beabsichtigte Entführung der Klägerin zu 2. sind dem pakistanischen Staat nicht zuzurechnen. Es ist nicht erkennbar, dass der pakistanische Staat Verfolgungsmaßnahmen von Privatpersonen speziell gegenüber den Klägern als Christen oder in einer eine Gruppenverfolgung darstellenden Häufigkeit von Fällen gegen Christen allgemein anregte, unterstützte oder billigte. Eine tatenlose Hinnahme lässt sich bezogen auf den Zeitpunkt der Ausreise der Kläger ebenfalls nicht feststellen. Sie liegt nicht schon dann vor, wenn die Bemühungen des zum Schutz bereiten Staates mit unterschiedlicher Effektivität greifen oder wenn die gebotene Schutzgewährung die Kräfte des Staates übersteigt (BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315 336>). Entscheidend ist vielmehr, ob der Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln im Großen und Ganzen Schutz gewährt. Der pakistanische Staat hat in der Vergangenheit Christen nicht immer ausreichend gegen Übergriffe seitens der muslimischen Bevölkerung geschützt. Für die Zurechnung mittelbarer Verfolgungshandlungen kommt es jedoch, wie ausgeführt, nicht darauf an, ob der pakistanische Staat in der Lage war, den gebotenen Schutz zu gewähren. Ebenso wenig steht das Versagen von Amtswaltern und anderen staatlichen Stellen im Einzelfall der Annahme einer staatlichen Schutzbereitschaft entgegen (BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990 - 9 C 60.89 -, a.a.O.).

Die prinzipielle Bereitschaft des pakistanischen Staates, Christen vor Verfolgung durch die muslimische Bevölkerung zu schützen, lässt sich für den in diesem Zusammenhang maßgeblichen Zeitpunkt der Ausreise der Kläger aus Pakistan aus dem 1993 bis 1995 erkennbaren Bemühen des pakistanischen Staates herleiten, den vom damaligen Justizminister Iqbal Hyder mehrmals öffentlich eingeräumten Missbrauch des Art. 295 C PPC zum Nachteil von Christen - bei der Ausreise der Kläger aus Pakistan waren, wie unten näher ausgeführt wird, etwa 100 Strafverfahren gemäß Art. 295 C PPC gegen Christen anhängig, die zumeist auf Grund privater Anschuldigungen eingeleitet wurden - zu verhindern. Zu einer entsprechenden Änderung des Art. 295 C PPC kam es zwar letztlich nicht, es blieb aber auch nicht bei einer bloßen Absichtsbekundung. Es kam zu einer Verständigung zwischen der pakistanischen Regierung und Vertretern der christlichen Minderheit dahingehend, dass zur Vermeidung eines Missbrauchs des Art. 295 C PPC zur Regelung privater Streitigkeiten ein förmliches Strafverfahren erst nach einer unabhängigen Prüfung durch einen Richter eingeleitet werden sollte.

Eine fehlende Schutzbereitschaft des pakistanischen Staates ergibt sich darüber hinaus nicht aus dem Vortrag der Kläger, besonders die Christen als wirtschaftlich unterprivilegierte Gruppe seien im alltäglichen Leben schlechter gestellt als andere, insbesondere muslimische, religiöse Gruppen. Für Christen war es vor der Ausreise der Kläger aus Pakistan - das gilt auch heute noch - schwer, ihre wirtschaftlichen und sozialen Rechte durchzusetzen. Sie gehörten und gehören zur ärmsten Bevölkerungsgruppe und werden nicht nur bei der Schulausbildung, sondern auch bei der Berufsausübung benachteiligt, etwa durch Benachteiligungen bei der Stellensuche. Überwiegend lassen sich die Benachteiligungen zwar auf ein staatliches Desinteresse, die Rechte der Christen zu schützen, zurückführen. Die Benachteiligungen beruhten und beruhen teilweise auch auf bewusster staatlicher Diskriminierung der Christen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 7. November 1994, S. 9 und Auskunft an das VG Wiesbaden vom 23. September 1994). Diese Diskriminierungen haben aber nicht eine derartige Intensität und Dichte, dass jeder Christ in Pakistan bezogen auf den Zeitpunkt der Ausreise der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in seiner physischen Existenz, seiner körperlichen Unversehrtheit oder persönlichen Freiheit unmittelbar in einer der Menschenwürde widersprechenden Weise bedroht war. Nach sämtlichen Erkenntnisquellen, die dem Senat vorliegen, besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger Leben und Gesundheit aller in Pakistan lebenden Christen auf Grund mangelnder wirtschaftlicher oder sozialer Existenzgrundlage konkret bedroht waren. Dass der pakistanische Staat wenigstens bereit war, die Kläger vor Übergriffen der MQM zu schützen, und ihm deshalb die vom Kläger zu 1. geschilderten Übergriffe, sollten sie von Anhängern der MQM ausgeübt worden sein, nicht zugerechnet werden können, lässt sich für die in diesem Zusammenhang maßgebliche Zeit vor der Ausreise der Kläger aus dem Vorgehen der pakistanischen Sicherheitskräfte gegen die MQM herleiten.

Die Kläger waren vor ihrer Ausreise aus Pakistan auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmittelbar drohenden Gruppenverfolgung ausgesetzt. Sowohl die vom Staat ausgehende unmittelbare als auch die von Dritten ausgehende mittelbare Gruppenverfolgung setzen eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener politischer Verfolgung der Kläger rechtfertigt. Bei der Ausreise der Kläger lagen diese Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung der in Pakistan lebenden Christen nicht vor. Eine unmittelbare Gruppenverfolgung lässt sich aus der Anwendung, auf die es maßgeblich ankommt (vgl. BVerwG, Urteile vom 31. März 1992 - 9 C 34.90 - und 3. Dezember 1991 - 9 C 35.90 -, m.w.N.) des Art. 295 C des pakistanischen Strafgesetzbuches (Pakistan Penal Code - PPC) nicht herleiten. Eine Gruppenverfolgung oder ein Verfolgungsprogramm des pakistanischen Staates ergibt sich auch nicht daraus, dass es Christen ebenso wie den Angehörigen anderer religiöser Minderheiten vor der Ausreise der Kläger im September 1995 in Pakistan - das gilt auch heute noch - schwer fiel, ihre wirtschaftlichen und sozialen Rechte durchzusetzen. Wie bereits ausgeführt, besteht nach sämtlichen Erkenntnisquellen, die dem Senat vorliegen, kein Anhaltspunkt dafür, dass im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger Leben und Gesundheit aller in Pakistan lebenden Christen auf Grund mangelnder wirtschaftlicher oder sozialer Existenzgrundlage konkret bedroht waren.

Das pakistanische Wahlrecht lässt ebenfalls kein asylerhebliches Verfolgungsprogramm des pakistanischen Staates erkennen.

Die Kläger waren bei ihrer Ausreise aus Pakistan auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt. Abgesehen davon, dass, wie ausgeführt, eine fehlende Schutzbereitschaft des pakistanischen Staates zu Gunsten der Christen nicht festgestellt werden kann, fehlte es auch insoweit an der hierfür vorauszusetzenden Verfolgungsdichte.

Haben die Kläger damit Pakistan unverfolgt verlassen, so kommt die Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG und Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG nur dann in Betracht, wenn ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung im Falle einer Rückkehr droht. Das ist nicht der Fall. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kläger bei einer Rückkehr Opfer einer unmittelbaren staatlichen individuellen oder gruppengerichteten politischen Verfolgung werden. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine unmittelbare staatliche Gruppenverfolgung der in Pakistan lebenden Christen ist ebenfalls nicht gegeben. Die Kläger treffen als Christen bei ihrer Rückkehr auf eine Situation, die sich als Fortsetzung der bei ihrer Ausreise bestehenden Lage in Pakistan darstellt und die sich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zukunft ändern wird. Es besteht darüber hinaus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan Opfer einer dem pakistanischen Staat zuzurechnenden individuellen Verfolgung durch Dritte oder Opfer einer mittelbaren Gruppenverfolgung werden.

Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG liegen nicht vor. Wie sich aus dem zu Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG Ausgeführten ergibt, bestehen für eine den Klägern drohende konkrete Gefahr der Folter (§ 53 Abs. 1 AuslG), einer staatlich zu verantwortenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (§ 53 Abs. 4 AuslG, Art. 3 EMRK), einer Beeinträchtigung des unbedingt zu schützenden menschenrechtlichen Kerns der Religionsfreiheit (§ 53 Abs. 4 AuslG, Art. 9 EMRK) oder für Leib, Leben und Freiheit aus individuellen Gründen (§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die Kläger sind im Falle einer Rückkehr nach Pakistan auch keiner extremen allgemeinen Gefahrenlage ausgesetzt, die ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründet.