VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 18.05.2017 - 12 A 15/17 - asyl.net: M25422
https://www.asyl.net/rsdb/M25422
Leitsatz:

Wohnsitzauflage bei Erwerbsunfähigkeit wegen Erkrankung unrechtmäßig:

1. Die UN-Behindertenrechtskonvention enthält kein allgemeines Verbot von Wohnsitzauflagen gegenüber Menschen mit Behinderungen (sich anschließend an OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23.02.2015 - 8 PA 13/15 - asyl.net: M22796).

2. Eine Wohnsitzauflage für eine Person mit krankheitsbedingtem Abschiebungsverbot ist unverhältnismäßig, wenn sie aufgrund ihrer Erkrankung niemals in der Lage sein wird, ihren Lebensunterhalt zu sichern, um so die Aufhebung der Wohnsitzauflage zu erreichen (zitiert BVerwG, Urteil vom 15.01.2013 - 1 C 7/12 - asyl.net: M20525 und VG Karlsruhe, Urteil vom 06.03.2014 - 2 K 1932/13).

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Wohnsitzauflage, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Sicherung des Lebensunterhalts, Lebensunterhalt, Verhältnismäßigkeit, Krankheit, Alter, Aufenthaltserlaubnis, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Herzerkrankung, Behinderung, erwerbsfähig, Behindertenrechtskonvention, UN-Behindertenrechtskonvention, erwerbsunfähig,
Normen: IPBPR Art. 12 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, IPBPR Art. 12 Abs. 3, GG Art. 3 Abs. 3 S. 2, CRPD Art. 19 Bst. a, IPBPR Art. 12, CRPD Art. 18 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die der Aufenthaltserlaubnis vom 30.12.2013 beigefügte Wohnsitzauflage war im Zeitpunkt ihrer Erledigung am 03.03.2016 rechtswidrig und hat den Kläger in seinen Rechten verletzt.

Der Rechtmäßigkeit der Wohnsitzauflage stand weder Art. 12 IPBPR noch eine etwaige Ungleichbehandlung der Angehörigen der ethnischen Minderheit der Roma gegenüber anderen Nachkommen der Überlebenden des nationalsozialistischen Völkermordes entgegen (vgl. dazu ausführlich Nds. OVG Beschl. v. 04.04.2017 in dem die Lebensgefährtin und die Kinder des Klägers betreffenden Verfahren 8 PA 46/17, juris Rdnr. 9).

Die Wohnsitzauflage stellte auch keine unzulässige Diskriminierung wegen der – allerdings nicht nachgewiesenen - Behinderung des Klägers dar. [...]

Die der Aufenthaltserlaubnis vom 30.12.2013 beigefügte Wohnsitzauflage stand im Zeitpunkt ihrer Erledigung am 03.03.2016 in keinem angemessenen Verhältnis (mehr) zu dem erstrebten Zweck und ist daher unverhältnismäßig. Den persönlichen Interessen von Ausländern an einem unbeschränkten Aufenthaltsrecht kommt grundsätzlich umso höheres Gewicht zu, je länger die Beschränkung andauert (BVerwG, Urt. v. 15.01.2013 - 1 C 7.12 - juris Rdnr. 22). Das gilt insbesondere bei der Gruppe der Ausländer, bei denen - wie im Fall des Klägers - ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festgestellt worden ist, das voraussichtlich dauerhaft sein wird, und die ein von der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts unabhängiges Aufenthaltsrecht erlangt haben (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 06.03.2014 - 2 K 1932/13 -, juris Rdnr. 37). [...] Der Kläger jedenfalls hielt sich im Zeitpunkt der Erledigung der hier streitigen Wohnsitzauflage am 03.03.2016 bereits mehr als sechzehn Jahre im Bundesgebiet auf. Seit Abschluss seines Asylverfahrens im Jahre 2004 war die Wohnsitznahme des Klägers wegen der fehlenden Sicherung seines Lebensunterhalts auf die Gemeinde … bzw. auf den Landkreis … beschränkt. Aufgrund seiner Erkrankungen konnte nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger jemals wieder in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt dauerhaft aus eigenen Kräften zu sichern. [...] War somit im Zeitpunkt der Erledigung der Wohnsitzauflage am 03.03.2016 kaum zu erwarten, dass der Kläger jemals durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt sichern würde, wurde er durch die hier streitgegenständliche Wohnsitzauflage in unverhältnismäßiger Weise daran gehindert, seinen Wunsch, in die Nähe seiner in ... wohnenden Geschwister zu ziehen, obwohl er - ohne bereits pflegebedürftig zu sein - wegen seines Gesundheitszustandes auf deren Hilfe angewiesen ist. Unter diesen Umständen überwog im Zeitpunkt der Erledigung der Wohnsitzauflage das persönliche Interesse des Klägers, seinen Wohnsitz nach … zu verlegen, das mit der Auflage verfolgte öffentliche Interesse an einer angemessenen Lastenverteilung zwischen den Ländern und Kommunen. [...]