VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 01.09.2017 - 4 A 2987/16.A - asyl.net: M25500
https://www.asyl.net/rsdb/M25500
Leitsatz:

1. Asylantragstellenden droht in Ungarn eine Rückführung nach Serbien als "sicheren Drittstaat" ohne inhaltliche Prüfung ihrer Schutzbedürftigkeit. Die Ausgestaltung des Verfahrens genügt nicht den Anforderungen an das europarechtlich normierte Konzept des sicheren Drittstaates, innerhalb dessen allein eine Abschiebung in einen Drittstaat ohne inhaltliche Prüfung des Schutzbegehrens zulässig ist.

2. In Transitzentren untergebrachte Asylsuchende können regelmäßig keinen effektiven Rechtsschutz erlangen, wenn ihr Asylgesuch als unzulässig abgelehnt wird, weil sie über Serbien eingereist sind.

3. Zudem droht Asylsuchende eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung aufgrund einer möglichen Internierung in einem von zwei solcher Transitzentren bis zum Abschluss ihres Verfahrens. Dieser Internierung sind alle Asylsuchenden ohne Ausnahmen oder Rücksicht auf besondere Schutzbedürftigkeit ausgesetzt.

4. Das Asylsystem in Ungarn weist demnach systematische Mängel auf.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Ungarn, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Aufnahmebedingungen, systemische Mängel, Serbien, sicherer Drittstaat, Dublin II-VO, Zuständigkeit, Wiederaufnahme, Selbsteintritt, Transitzentrum, Dublin III-Verordnung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. b, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2 Satz 1, VO 343/2003 Art. 10 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1 Bst. c, VO 343/2003 Art. 17 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 20, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Auch eine Zuständigkeit Ungarns ist nicht gegeben.

Zwar folgt die Zuständigkeit Ungarns zunächst aus Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO. Ungarn hat auch mit der Wiederaufnahmezusage vom 3. Dezember 2013 seine Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Klägers unter Bezugnahme auf die Vorschrift des Art. 16 Abs. 1 Buchst. c Dublin II-VO erklärt. Jedoch ist unter Beachtung der von der Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 Dublin II-VO entwickelten Maßstäbe eine Zuständigkeit Ungarns deshalb nicht gegeben, weil eine Selbsteintrittspflicht der Beklagten besteht, die zum Übergang der Zuständigkeit auf die Beklagte führt. [...]

Nach diesen Maßgaben ist die Beklagte zum Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO verpflichtet. Denn zur Überzeugung des Senats gibt es ernsthafte und durch Tatsachen belegte Anhaltspunkte dafür, dass das ungarischen Asylsystem systemische Mängel aufweist, wegen derer dem Kläger im Falle einer Rückführung nach Ungarn die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht (so auch OVG Sachsen, Urteil vom 6. Juni 2017 - 4 A 584/16.A -, juris; Bayerischer VGH, Urteil vom 23. März 2017 - 13a B 17.50003 -, juris; OVG Saarland, Urteil vom 9. März 2017 - 2 A 365/16 -, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 15. November 2016 - 8 LB 92/15 -, juris; nachfolgend BVerwG, Beschluss vom 10. April 2017 - 1 B 11.17 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Oktober 2016 - A 11 S 1596/16 -, juris).

Dabei stellt der Senat für die Frage, ob systemische Mängel vorliegen, mit Blick auf die Regelung des § 77 Abs. 1 AsylG, allein auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im Zeitpunkt des Ergehens der Entscheidung ab (so auch OVG Niedersachsen, Urteil vom 15. November 2016 - 8 LB 92/15 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Oktober 2016 - A 11 S 1596116 -, juris; Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. April 2015, juris Rdnr. 10; EGMR, Urteil vom 3. April 2014 – 71932/12 -, juris Rdnr. 63; BVerfG, Beschluss vom 21. April 2016, - 2 BvR 273/16 -, juris Rdnr. 11). Auch unter dem Blickwinkel des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs ist nicht auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen (so aber OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. Mai 2017 - 11 A 52/17.A -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2016 - A 11 S 974/16 -, juris). Zwar ist nach Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO (nahezu gleichlautend Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO) bei der Bestimmung des nach den Kriterien des Kapitels III zuständigen Mitgliedstaats von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylantragsteller seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat gestellt hat. Zum einen fällt aber der in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO geregelte Selbsteintritt eines Mitgliedstaates schon systematisch nicht in den Anwendungskatalog der Kriterien der Zuständigkeitsbestimmung, für die Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO den Zeitpunkt abweichend von § 77 AsylG bestimmt. Vielmehr eröffnet die Regelung des Selbsteintritts die Möglichkeit der Zuständigkeitsübernahme, die neben den in der Dublin II-Verordnung geregelten Kriterien für die Zuständigkeitsbestimmung (Kapitel III der Dublin II-Verordnung) steht. Zum anderen ist die Sperrung des in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO normierten Selbsteintritts eines Mitgliedstaates trotz Verschlechterungen der tatsächlichen oder rechtlichen Situationen im jeweiligen Staat, in den überstellt werden soll, nicht vom Sinn und Zweck der Regelung getragen. Die Möglichkeit des Selbsteintritts i.V.m. den von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien zu systemischen Mängeln - inzwischen in Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO übernommen - soll dem Schutz des jeweiligen Asylantragstellers vor Überstellung in einen Staat dienen, in dem er von Verletzungen seiner Rechte aus Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-GRCh bedroht wäre. Würde man den Zeitpunkt der Beurteilung des Vorliegens systemischer Mängel gleichsam "einfrieren" auf den in Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO genannten Zeitpunkt, liefe dieser Schutz im Falle negativer Veränderungen leer.

Zu dem danach maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats weist das Asylsystem in Ungarn systemische Mängel auf.

Zunächst liegt ein systemischer Mangel darin, dass eine Rückführung von Asylantragstellern von Ungarn nach Serbien als "sicheren Drittstaat" ohne inhaltliche Prüfung ihrer Schutzbedürftigkeit droht. Nachdem Ungarn seit 2013 die Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaates in Bezug auf Serbien zunächst ausgesetzt hatte, hat es diese seit Sommer 2015 wiederaufgenommen (vgl. UNHCR, Hungary as a Country of Asylum, Mai 2016, Rdnr. 28 ff.). Dies beruhte auf einer Änderung des ungarischen Asylgesetzes im Juni 2015, das es der Regierung erlaubt, sichere Drittstaaten zu bestimmen. Im Juli 2015 bestimmte die Regierung, dass u.a. auch alle EU-Beitrittskandidaten, wozu auch Serbien zählt, als sichere Drittstaaten anzusehen seien (vgl. Regierungsverordnung 191/2015 vom 21. Juli 2015 über die Nationale Bestimmung von sicheren Herkunfts- und sicheren Drittstaaten, in UNHCR, a.a.O., Mai 2016, Rdnr. 33, Fußnote 76). Die Rückführungen stellen einen Verstoß gegen das Refoulement-Verbot des Art. 33 Abs. 1 GFK dar, der die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung Im Sinne des Art. 4 EU-GRCh birgt, weil von Serbien aus eine Abschiebung in andere Staaten oder den Herkunftsstaat droht, ohne dass eine den europäischen Mindestanforderungen genügende Prüfung der Schutzbedürftigkeit erfolgt (so auch OVG Niedersachsen, Urteil vom 15. November 2016 - 8 LB 92/15 -, juris; OVG Saarland, Urteil vom 9. März 2017 - 2 A 365/16 -, juris).

Die Ausgestaltung des Asylverfahrens in Serbien genügt nicht den Anforderungen an das europarechtlich normierte Konzept des sicheren Drittstaates, innerhalb dessen allein eine Abschiebung in einen Drittstaat ohne inhaltliche Prüfung des Schutzbegehrens zulässig ist. Denn nach dem europarechtlichen Konzept darf ein Drittstaat nur dann als sicher angesehen werden, wenn dieser Staat seinerseits die Genfer Flüchtlingskonvention ohne geografischen Vorbehalt ratifiziert hat und deren Bestimmungen einhält, über ein gesetzlich festgelegtes Asylverfahren verfügt sowie die Europäischen Menschenrechtskonvention ratifiziert hat und die darin enthaltenen Bestimmungen, einschließlich der Normen über wirksame Rechtsbehelfe, einhält (Art. 39 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes [ABl. L 180 S. 60) - VerfahrensRL ). Nur dann ist eine Abschiebung dorthin ohne vorgeschaltete inhaltliche Prüfung des Schutzbegehrens zulässig. Diesen Anforderungen genügt Serbien nicht. Es droht eine weitere Rückführung ohne vorgeschaltete inhaltliche Prüfung des Schutzbegehrens von Serbien in andere Staaten, die ihrerseits den Anforderungen nicht genügen. So betrachtet Serbien alle Nachbarstaaten, Griechenland und auch die Türkei als sichere Drittstaaten (UNHCR, Serbia as a Country of Asylum, August 2012, Rdnr. 37). Der UNHCR empfiehlt seit 2012, Serbien wegen grundlegender Mängel des Asylsystems nicht als sicheren Drittstaat einzustufen und Asylbewerber nicht dorthin abzuschieben (UNHCR, a.a.O., August 2012, Rdnr. 81; UNHCR, Hungary as a Country of Asylum, Mai 2016, Rdnr. 71); diese Bewertung des serbischen Asylsystems als mangelhaft wird auch von der Europäischen Kommission geteilt (Serbia Progress Report, Oktober 2014, S. 52).

Regelmäßig ist für diejenigen Asylantragsteller, die über Serbien nach Ungarn gelangten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das ernsthafte Risiko der Abschiebung dorthin besteht. Da Serbien seit Juli 2015 von Ungarn wieder als sicherer Drittstaat betrachtet wird, werden Asylanträge von über Serbien eingereisten Asylantragstellern regelmäßig als unzulässig abgelehnt (UNHCR, a.a.O., Mai 2016, S. 14 ff.; aida, Country-Report: Hungary, 31. Dezember 2016, S. 50 ff.; bordermonitoring.eu/Pro Asyl, Gänzlich unerwünscht - Entrechtung, Kriminalisierung und Inhaftierung von Flüchtlingen in Ungarn, Juli 2016, S. 17). Dies betrifft auch den Kläger, der nach seinen Angaben über den Landweg von Serbien aus nach Ungarn gelangte, wie im Übrigen ca. 99 % aller Asylsuchenden in Ungarn (bordermonitoring.eu/Pro Asyl, a.a.O., Juli 2016, S. 17 unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Europäischen Flüchtlingsrates - ECRE - aus dem Jahr 2015).

Die Abschiebung des Klägers nach Serbien ist auch nicht etwa deshalb unwahrscheinlich, weil in der Mehrzahl der Fälle eine Überstellung tatbestandlich und auch nach der Vollzugspraxis Ungarns nicht in Frage kommt. So wird davon ausgegangen, dass eine Überstellung von Ungarn nach Serbien nur auf der Grundlage des zwischen Serbien und Ungarn geschlossenen Rückübemahmeabkommens erfolgen könne. Dessen Voraussetzungen (Fristen, Nachweis der Einreise über Serbien, Übernahmebestätigung Serbiens, etc.) seien aber regelmäßig nicht erfüllt. Zudem habe Serbien seine Verpflichtungen aus dem Abkommen weitgehend ausgesetzt (vgl. VG München, Urteil vom 15. Februar 2017 - M 8 K 16.50303 -, juris; VG Berlin, Urteil vom 13. Dezember 2016 - 3 K 509.15 A -, juris m.w.N). Dieser Bewertung vermag sich der Senat angesichts der jüngsten Änderungen der ungarischen Asylgesetzgebung nicht anzuschließen. Seit Juli 2016 ist die ungarische Polizei berechtigt, in einem Bereich von 8 km zur Grenze zu Serbien auf ungarischem Hoheitsgebiet aufgegriffene Schutzsuchende ohne jede Prüfung und ohne jedes Überstellungsverfahren über die Grenze nach Serbien zu verbringen (Amnesty International, Stranded Hope, September 2016, S. 19; Amnesty International, Amnesty Report 2017 Ungarn, 31. Dezember 2016, S. 2; UNHCR, update #31, September 2016, S. 4). Seit März 2017 gilt dies für das gesamte Staatsgebiet (Human Rights Watch, Draft Law Tramples Asylum Seekers' Rights, 7. März 2017, S. 1; OVG Sachsen, Urteil vom 06. Juni 2017 - 4 A 584/16.A -, juris Rdnr. 40). Im Hinblick auf diese neuen Befugnisse haben die Angaben des Liaisonmitarbeiters der Beklagten im Lagebericht vom 13. Januar 2016 keine Aussagekraft mehr. Die Bewertung, wegen fehlender Erfüllung der formellen Voraussetzungen des Rücknahmeübereinkommens bestehe nur eine geringe Gefahr der Abschiebung nach Serbien, ist angesichts der jüngsten Änderungen überholt. Insbesondere aus den Transitzonen erfolgen Überstellungen nicht unter den Voraussetzungen des Rücknahmeübereinkommens, sondern werden faktisch in Form schlichter Begleitungen nach Serbien ohne Beteiligung der serbischen Behörden vorgenommen (UNHCR, Die Situation von Asylsuchenden nach einer Rücküberstellung nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung, 9. September 2016, S. 1). Dabei werden abgelehnte Asylbewerber ohne Beteiligung der serbischen Behörden schlicht auf eine schmalen Streifen Land auf der Außenseite der Transitzone geleitet (bordermonitoring.eu/Pro Asyl, a.a.O., Juli 2016, S.22). Dieser Bereich gehört zwar zum ungarisches Staatsgebiet, stellt jedoch nach Auffassung der ungarischen Behörden Niemandsland dar (aida, a.a.O., 31. Dezember 2016, S. 36; bordermonitoring.eu/Pro Asyl, a.a.O., Juli 2016, S. 22).

Auch können Asylbewerber, die sich in der Transitzone aufhalten bzw. untergebracht sind, regelmäßig keinen effektiven Rechtsschutz erlangen, wenn ihr Asylgesuch als unzulässig abgelehnt wird, weil sie über Serbien eingereist sind, das als sicherer Drittstaat betrachtet wird. Zwar sind nach ungarischem Asylrecht Asylbewerber vor einer entsprechenden Entscheidung anzuhören. Dabei ist ihnen Gelegenheit zu gegeben, innerhalb von 3 Tagen darzulegen, weshalb in ihrem jeweiligen Fall der Drittstaat nicht sicher ist (aida, a.a.O., 31. Dezember 2016, S. 37). Dennoch werden die Anträge schon am Tag der Antragstellung oder am Folgetag als unzulässig abgelehnt (UNHCR, Hungary as a Country of Asylum, Mai 2016, Rdnr. 25). In der Praxis wird die 3-Tages-Frist dadurch unterlaufen, dass den Asylbewerbern unmittelbar nach der Anhörung eine Erklärung zum Unterschreiben vorgelegt wird, nach der sie mit dem Verweis auf den sicheren Drittstaat nicht einverstanden sind. Mit dem Ausfüllen dieser Erklärung wird das Anhörungserfordernis als erfüllt angesehen und die Unzulässigkeitsentscheidung getroffen. Auf diese Weise wird verhindert, dass anwaltliche Hilfe in Anspruch genommen wird und eine nähere Begründung der mangelnden Qualität von Serbien als sicherer Drittstaat erfolgt (aida, a.a.O., 31. Dezember 2016, S. 37). Die Unzulässigkeitsentscheidung kann sodann durch einen innerhalb von sieben Tagen zu stellenden Rechtsbehelf angefochten werden, wobei allerdings zweifelhaft ist, ob das Gericht neue Tatsachen und Umstände berücksichtigt (bordermonitoring.eu/Pro Asyl, a.a.O., Juli 2016, 5.19; UNHCR, a.a.O., Mai 2016, Rdnr. 18). In der Rechtsbehelfsfrist und solange die Klage anhängig ist, längstens jedoch 28 Tage, war es schon bisher den Asylbewerbern in der Transitzone verwehrt, diese in Richtung Ungarn zu verlassen (Amnesty International, Stranded Hope, September 2016, S. 16; UNHCR, a.a.O., Mai 2016, Rdnr. 26). Eine - nicht zwingend vorgesehene - gerichtliche Anhörung findet in Form einer Videokonferenz statt (aida, a.a.O., 31. Dezember 2016, S. 39, UNHCR, a.a.O., Mai 2016, Rdnr. 17). Die gerichtliche Entscheidung soll zwar innerhalb von acht Tagen (UNHCR, a.a.O., Mai 2016, Rdnr. 17) getroffen werden, ergeht tatsächlich jedoch teilweise bereits ein bis zwei Tage nach Eingang des Verfahrens (aida, a.a.O., 31. Dezember 2016, S. 39). Selbst wenn ein Gericht die auf der Einstufung Serbiens als sicherer Drittstaat beruhende Unzulässigkeitsentscheidung aufhebt, wiederholt die ungarische Asylbehörde regelmäßig die aufgehobene Entscheidung und prüft Asylanträge inhaltlich erst dann, wenn eine zweite oder dritte gerichtliche Aufhebung erfolgt ist (UNHCR, a.a.O., Mai 2016, Rdnr. 42; bordermonitoring.eu/Pro Asyl, a.a.O., Juli 2016, S. 19). Im Falle einer negativen gerichtlichen Entscheidung oder der Rücknahme oder Unanfechtbarkeit der Unzulässigkeitsentscheldung werden die Asylbewerber aus der Transitzone in Richtung Serbien entlassen (aida, a.a.O., 31. Dezember 2016, S. 38). Dabei kann auch das Recht auf anwaltlichen Beistand während des gesamten Verfahrens in der Praxis nur schwer umgesetzt werden. Da schon das Interview zum Fluchtweg unmittelbar nach der Ankunft in der Transitzone geführt wird und auch nach gerichtlicher Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung eine erneute Anhörung zur Frage des sicheren Drittstaates äußerst kurzfristig angesetzt wird, kann anwaltlicher Beistand kaum rechtzeitig eintreffen (UNHCR, a.a.O., Mai 2016, Rdnr. 27). Die im Klageverfahren durch den anwaltlichen Beistand vorgelegten Unterlagen werden von der Asylbehörde zum Teil nicht an das Gericht weitergeleitet. Selbst wenn sie direkt bei Gericht eingereicht werden, ist aufgrund der beschleunigten Verfahrensbearbeitung nicht gewährleistet, dass sie den zuständigen Richter vor der Entscheidung erreichen (aida, a.a.O., 31. Dezember 2016, S. 39). Darüber hinaus wird der Kontakt zwischen Rechtsanwälten und Asylbewerbern seit Anfang 2017 durch Zugangshindernisse erschwert (aida, a.a.O., 31. Dezember 2016, S. 40; vgl. insgesamt auch OVG Sachsen, Urteil vom 6. Juni 2017 - 4 A 584/16.A -, juris). Zudem sollen ab 28. März 2017 In Kraft getretene Änderungen des ungarischen Asylrechts die Asylverfahren weiter beschleunigen. Für eine Berufung nach Ablehnung gilt eine Frist von drei Tagen, die gerichtliche Anhörung kann in der Transitzone oder durch technische Zuschaltung erfolgen (FAZ, Ungarn hält Flüchtlinge in Transitzonen fest, 8. März 2017; Süddeutsche Zeitung, Ungarn interniert Flüchtlinge in Lagern, 8. März 2017). Aufgrund der seit März 2017 vorgesehenen Internierung aller Asylbewerber in den sog. Transitzentren (UNHCR, Dublin-Überstellungen nach Ungarn aussetzen, 10. April 2017) ist zudem davon auszugehen, dass auch der Kläger von diesen für die Asylverfahrensausgestaltung in den Transitzentren beschriebenen Umständen betroffen sein wird.

Ein weiterer systemischer Mangel des ungarischen Asylsystems besteht darin, dass seit Inkrafttreten der Änderungen der rechtlichen Grundlagen des ungarischen Asylrechts vom März 2017 die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch die bevorstehende Verbringung und Festsetzung des Klägers bis zum Abschluss seines Asylverfahrens in einem von zwei sog. Transitzentren (Internierung) droht, die er ausschließlich in Richtung Serbien verlassen kann.

Diese Internierungen erfolgen ohne Ausnahme und ohne besonderen Anlass. Ihnen sind alle Schutzsuchenden in Ungarn, selbst unbegleitete Kinder über 14, ausgesetzt, unabhängig davon, von wo sie eingereist sind (Amnesty International, Hungary: Legal amendments to detain all asylum-seekers a deliberate new attack on the rights of refugees and migrants, 9. März 2017, S. 3; FAZ, a.a.O., 8. März 2017, Süddeutsche Zeitung, a.a.O., 8. März 2017). Die Internierung stellt einen Freiheitsentzug dar (UNHCR, a.a.O., 10. April 2017; vgl. EGMR, Urteil vom 14. März 2017 – 47287/15 -, Tz. 56, abrufbar unter hudoc.echr.coe.int/eng. Darin liegt ein Verstoß gegen Art. 26 VerfahrensRL, der eine Ingewahrsamnahme eines Schutzsuchenden allein, weil er einen Antrag gestellt hat, untersagt.

Ob die darin liegende Verletzung des Rechts auf Freiheit aus Art. 6 EU-GRCh bzw. Art. 5 EMRK für sich betrachtet schon eine menschenunwürdige und/oder erniedrigende Behandlung darstellt, kann dahinstehen. Jedenfalls aufgrund der konkreten Bedingungen der Internierung ist die erforderliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung und damit der Verletzung von Art. 4 EU-GRCh anzunehmen. Denn die Umstände der Internierung der Asylbewerber in den Transitzentren gehen nach den bisherigen dem Gericht bekannt gewordenen Informationen über eine bloße Beschränkung der Freizügigkeit auf ein zumutbares Gebiet (vgl. insoweit Art. 7 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl. L 180 S. 96) unter menschenwürdigen Bedingungen hinaus.

Bei den Transitzonen handelt es sich um die bereits im Rahmen der Errichtung des Grenzzaunes zu Serbien Im September 2015 geschaffenen Zentren, die unmittelbar an der Grenze liegen. Sie sind ursprünglich zur Aufnahme der aus Serbien einreisenden Schutzsuchenden errichtet worden und sollten nur der Durchführung der Zulässigkeitsprüfung des Asylverfahrens für Personen ohne besonderes Schutzbedürfnis dienen (bordermonitoring.eu/Pro Asyl, a.a.O., Juli 2016, S. 22; UNHCR, a.a.O., Mai 2016, S. 8 f.). Nach den tatsächlichen Erkenntnissen sind diese Transitzentren so ausgestaltet, dass es sich um unmittelbar an der Grenze gelegene umzäunte Gelände handelt, die mit Wohn- und Bürocontainern ("Schiffscontainer"), neuerdings auch mit Spielplatz und Sportstätte ausgestattet sind. Die Zäune sind mehrfach mit Stacheldraht versehen (vgl. OVG Sachsen, Urteil vom 06. Juni 2017 - 4 A 584116.A -, juris; UNHCR, a.a.O., 10. April 2017, S. 2; Amnesty International, a.a.O., 9. März 2017, S. 2; Süddeutsche Zeitung, 11. April 2017; Forschungsgesellschaft Flucht & Migration, UN: Situation in Ungarn lässt Rückführungen von Flüchtlingen nicht zu, 10. April 2017, S. 2). Die Zentren können von den Asylbewerbern nur in Richtung der Außengrenze verlassen werden (Amnesty International, Stranded Hope, September 2016, S. 16 f.; FAZ, Ungarn hält Flüchtlinge in den Transitzonen fest, 8. März 2017; Forschungsgesellschaft Flucht & Migration, a.a.O.,10. April 2017). Diese Bedingungen verbunden mit dem Umstand, dass eine Internierung in diesen Zentren für das gesamte Asylverfahren erfolgt und damit ihre Dauer für den jeweiligen Asylantragsteller weder absehbar, beeinflussbar noch wenigstens mit einer absoluten Obergrenze limitiert ist, lässt die Internierung unmenschlich und erniedrigend erscheinen. Eine zeitlich unbegrenzte Internierung auf engstem Raum in Containern nur aus dem Anlass der Beantragung von internationalem Schutz zeigt fehlenden Respekt vor der Menschenwürde des Einzelnen.

Nach Inkraftsetzen dieser Regelungen hat der UNHCR am 10. April 2017 dazu aufgerufen, Überstellungen von Asylbewerbern aus anderen EU-Staaten nach Ungarn im Dublinverfahren zeitweise auszusetzen. UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sagte: "Die Situation für Asylsuchende in Ungarn, die schon zuvor Anlass zu großer Sorge gab, hat sich noch einmal verschlechtert, seit ein neues Gesetz in Kraft getreten ist, das Asylsuchende zwangsweise interniert". Er fügte hinzu: "Angesichts der sich verschlechternden Situation von Asylsuchenden in Ungarn, fordere ich die Staaten dazu auf, Dublin-Überstellungen solange auszusetzen, bis die ungarischen Behörden ihre Praktiken und Gesetze in Einklang mit europäischem und internationalen Recht gebracht haben" (UNHCR, a.a.O., 10. April 2017). Zwar kommt den Aufrufen des UNHCR keine Bindungswirkung zu, jedoch ist die Stellungnahme des UNHCR regelmäßig in Betracht zu ziehen und zu berücksichtigen (vgl. Art. 10 Abs. 3 Buchst b VerfahrensRL und Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes [ABl. L 337 S.9]), insbesondere da diesem die Überwachung der Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention obliegt (Art. 35 GFK; vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013 – C-528/11-, juris Rdnr. 44). [...]