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VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 20.12.2016 - 4 K 2612/14.A - asyl.net: M25585
https://www.asyl.net/rsdb/M25585
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für ein kurdisches Paar, das in der Türkei nach ihrer Heirat von Ehrenmord bedroht ist. Die Möglichkeit des Zugangs zu Schutzeinrichtungen in der Türkei bei familiären Konflikten ist maßgeblich von der Herkunft, der Schulbildung und der generellen Vernetzung der Betroffenen abhängig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, soziale Gruppe, Ehrenmord, Zwangsehe, interne Fluchtalternative, Kurden,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3d Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3d Abs. 2 S. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3d Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Verfolgungsgrund ist im vorliegenden Fall die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. [...]

Die Verfolgungshandlungen zielen auf das identitätsprägende Merkmal, das Recht auf die freie Wahl des eigenen Partners beziehungsweise der selbstbestimmten sexuellen Identität wahrzunehmen [...]. [...]

Ausweislich des Berichtes des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 29.09.2015 kommt es in der Türkei noch immer zu "Ehrenmorden". Es würden insbesondere Frauen und Mädchen getötet, welche eines sogenannten "schamlosen Verhaltens" verdächtig würden. Aber auch Männer würden Opfer sogenannter "Ehrenmorde", zum Teil weil sie schamlose Beziehungen zu Frauen eingehen würden beziehungsweise sich weigern würden, die Ehre der Familie wieder herzustellen. Gemäß den Feststellungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Themenpapier "Türkei: Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei" vom 23.10.2013") seien "Ehrenmorde" vor allem unter der kurdischen Bevölkerung verbreitet und ein schwerwiegendes Problem. Verbrechen im Namen der Ehre seien häufig anzutreffen. Die männliche Ehre definiere sich durch die Frau. Wenn eine Frau gegen die Ehre verstößt, bringe sie Schande über die gesamte Familie.

Verschiedene Quellen würden davon ausgehen, dass Frauen, welche sich weigern eine arrangierte Heirat einzugehen, Opfer eines Ehrenmordes werden können. Entsprechende Verbrechen würden insbesondere im kurdisch dominierten Südosten oder unter den aus dem Südosten stammenden Migranten in den Städten verübt. Zuverlässige Statistiken zu den Ehrenmorden gebe es keine. [...]

Die Kläger haben im hier zur Bewertung anstehenden Einzelfall auch keinen Zugang zu einem wirksamen Schutz gegen die Verfolgung durch die Familie der Klägerin zu 2) von Seiten des türkischen Staates im Sinne des §§ 3c Nr. 3, 3d Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 AsylG.

Zwar habe der türkische Staat ausweislich des Berichtes des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 29.09.2015 in der Vergangenheit gezeigt, dass er grundsätzlich bereit sei, Schutz vor familiärer Verfolgung zu bieten. So seien Gewaltschutzvorschriften erlassen und Strafandrohungen verschärft worden. Auch würden Regierung und Nichtregierungsorganisationen bestätigen, dass sich die Polizeiarbeit beim Umgang mit Gewaltopfern verbessert habe, dennoch sei Erhebungen türkischer Frauen-NGOs zufolge 2011 73 % der um staatlichen Schutz bittenden Frauen die Unterstützung verwehrt worden.

Zudem würden weiterhin Unklarheiten im Strafgesetzbuch bestehen, welche aufgrund der sehr engen Auslegung der betreffenden Normen die Anwendung eingefügter Strafschärfungen für "Tötungen aus Gründen des Brauchtums" (Artikel 82 des türkischen Strafgesetzbuches) auf den Bereich der "Ehrenmorde" erschweren würden, wogegen die Möglichkeit der Strafmilderung im Falle einer "ungerechtfertigten Aufreizung" (Artikel 29 des türkischen Strafgesetzbuches) weiter bestehen würde (vergl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Türkei: Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei" vom 23.10.2013).

Letztendlich fehle es für die neuen Regelungen auch an einer landesweiten konsequenten Umsetzung, so würden gemäß dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 29.09.2015 in Bezug auf die Verfolgung und den Schutz bei Gewaltdelikten gegen Frauen weiter große Defizite bestehen, insgesamt bliebe die praktische Umsetzung der gesetzlichen Regelungen lückenhaft und gerade für Frauen seien die Zufluchtsmöglichkeiten ungenügend. Gemäß der Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (vergl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Türkei: Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei" vom 23.10.2013 unter Hinweis auf Human Rights Watch "He loves you, he beats you" aus Mai 2011 und Migration Review Tribunal and Refugee Review Tribunal - Australia - Country Advice Turkey vom 17.10.2011) sei der Zugang zu staatlichem Schutz für von Gewalt Betroffene in der Türkei noch immer mangelhaft, verschiedene Quellen würden belegen, dass Polizei und andere staatliche Akteure insbesondere Frauen nicht genügend schützen, welche befürchten, Opfer von Ehrenmorden zu werden.

Im Ergebnis gibt es zwar für Personen, die sich im Zusammenhang mit familiären Konflikten bedroht fühlen und um ihr Leben fürchten, grundsätzlich Möglichkeiten, sich an verschiedene türkische Einrichtungen zu wenden und Schutz zu erbitten; ob diese Voraussetzungen im Einzelfall hinreichend wirksam sein können, hängt jedoch davon ab, inwieweit diese Möglichkeiten im Einzelfall ausgehend von der Herkunft, der Schulbildung und der generellen Vernetzung der Betroffenen genutzt werden können (vergl. Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Urteil vom 18.12.2014, Az. 8 A 36/13). [...]