VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 14.12.2017 - 6 K 1053/16 - asyl.net: M25822
https://www.asyl.net/rsdb/M25822
Leitsatz:

Zuerkennung von subsidiärem Schutz aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Kreis Tal Afar, Provinz Ninewa, Irak. Aufgrund der schlechten humanitären Bedingungen in der autonomen Region Kurdistan-Irak besteht keine zumutbare interne Schutzalternative.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, subsidiärer Schutz, interne Fluchtalternative, Existenzminimum,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Dass in der Herkunftsregion der Kläger, die aus dem in der Provinz Ninewa gelegenen Ort ... stammen, aufgrund der dort andauernden schweren Anschläge und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen (vgl. dazu auch Auswärtiges Amt, Länderinformation Irak, Reise- und Sicherheitshinweise, abrufbar unter http//www.auswaertiges-amt.de, Stand: 11.12.2017) nach Intensität und Größenordnung von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im Verständnis von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen ist, der die Annahme rechtfertigt, dass die Kläger als Zivilpersonen dort allein durch ihre Anwesenheit in dieser Region tatsächlich Gefahr liefen, einer relevanten Bedrohung durch willkürliche Gewalt ausgesetzt zu sein, hat die Beklagte nicht in Abrede gestellt. Im Gegenteil geht auch die Beklagte, wie deren Beklagtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung nochmals bestätigt hat, davon aus, dass aus der Provinz Ninewa stammenden irakischen Staatsangehörigen bei einer derzeitigen Rückkehr dorthin ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG droht, weil die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr allein aufgrund einer Rückkehr in diese Region und des dortigen Aufenthalts gerechtfertigt ist. Individuell gefahrerhöhender Umstände bedarf es insoweit auch nach Ansicht der Beklagten nicht. Entgegen der Auffassung der Beklagten können die Kläger als kurdische Volkszugehörige allerdings nicht darauf verwiesen werden, in der autonomen Region Kurdistan-Irak Schutz zu suchen. [...]

Die Zumutbarkeit einer internen Schutzmöglichkeit hängt davon ab, ob an dem Ort, an dem der Ausländer vor einem ernsthaften Schaden sicher ist, auch das wirtschaftliche Existenzminimum des Ausländers gewährleistet ist und er dort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet. Im Falle fehlender Existenzgrundlage ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben. Dies gilt auch dann, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind. Das Vorhandensein einer Existenzgrundlage ist in der Regel anzunehmen, wenn der Ausländer durch eigene Arbeit oder Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Das ist nicht der Fall, wenn der Ausländer am Ort der inländischen Fluchtalternative bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt, oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums (vgl. zu Vorstehendem BVerwG, Beschluss vom 31.07.2002, 1 B 128.02, InfAuslR 2002, 455, m.w.N., sowie Urteil vom 29.05.2008, 10 C 11.07, DVBl. 2008, 1251).

Bei Zugrundelegung dieses Zumutbarkeitsmaßstabes kann den Klägern unter den in der Region Kurdistan-Irak herrschenden humanitären Bedingungen vernünftigerweise nicht angesonnen werden, sich dort niederzulassen. Das Gericht ist davon überzeugt, dass es den Klägern nicht gelingen würde, sich in der Region Kurdistan-Irak eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu schaffen und ein menschenwürdiges Dasein zu sichern.

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen (vgl. u.a. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 07.02.2017, a.a.O., UNHCR, UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation-Irak vom 08.04.2016, sowie ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Wirtschaftliche Lage in der autonomen Region Kurdistan-Irak für Rückkehrer, vom10.05.2017) ist eine innerirakische Migration in die Region Kurdistan-Irak zwar grundsätzlich möglich. Durch den Zustrom von Binnenvertriebenen ist die Region Kurdistan-Irak allerdings an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt. Mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge sind allein seit Anfang 2014 nach Kurdistan-Irak geflohen. Hinzu kommen mehr als 250.000 syrische Flüchtlinge. 2015 und 2016 sind weitere Flüchtlingslager entstanden. In der kurdischen Autonomieregion gibt es mittlerweile massive Ressourcenprobleme wie etwa begrenzte Wasserressourcen, ein überstrapaziertes Gesundheits- und Schulwesen sowie eine angespannte Situation am Arbeits- und Wohnungsmarkt. Die humanitäre Lage in der Region Kurdistan-Irak verschlechtert sich zunehmend, unter anderem aufgrund des beschränkten Zugangs zu Jobs und wirtschaftlichen Möglichkeiten, was dafür verantwortlich ist, dass viele gezwungen sind, auf den Körper schädigende Hunger-Bewältigungsstrategien umzustellen. Der Bevölkerungszuwachs erhöht den Druck auf die bereits beschränkten Ressourcen und die aufnehmenden Gemeinden. Die Bevölkerung der Autonomieregion hat sich durch die Flüchtlingswellen um 28 Prozent erhöht. Der kurdischen Regionalregierung gelingt es aufgrund dieser Situation kaum, den 1,6 Millionen Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die Zuflucht in der Autonomieregion gesucht haben, Unterstützung, Ansiedlungsmöglichkeiten und Schutz zu bieten. Auch wegen der eigenen Finanzkrise sieht sich die kurdische Regionalregierung nicht mehr in der Lage, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Dem entsprechend geht auch das Auswärtige Amt (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 07.02.2017, a.a.O.) ersichtlich davon aus, dass im Irak gegenwärtig Ausweichmöglichkeiten für Personen aus den umkämpften Landesteilen bzw. den derzeit noch von der Terrormiliz Islamischer Staat kontrollierten Gebieten nur ausnahmsweise in Betracht kommen können. Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch von der Terrormiliz Islamischer Staat kontrollierte Heimat zurückkehren können, haben nach Ansicht des Auswärtigen Amtes kaum eine Möglichkeit, einen sicheren Aufnahmeplatz im Irak zu finden. Dies entspricht auch der Auffassung des UNHCR (vgl. UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak, vom 14.11.2016), der eine interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative nur in dem außergewöhnlichen Fall als gegeben ansieht, dass die betreffende Person den entsprechenden Landesteil auf legalem Weg erreichen und sich dort rechtmäßig aufhalten kann, ihr dort keine neue Gefahr eines ernsthaften Schadens droht, sie dort enge familiäre Bindungen hat und die Familie bereit und in der Lage ist, sie zu unterstützen.

Vor diesem Hintergrund scheidet die autonome Region Kurdistan-Irak als interne Schutzmöglichkeit für die Kläger aus. [...]