OVG Rheinland-Pfalz

Merkliste
Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 04.06.2002 - 7 A 10365/02.OVG - asyl.net: M2585
https://www.asyl.net/rsdb/M2585
Leitsatz:

Hinreichende Gefährdung wegen unerlaubten Auslandsaufenthalt und Asylantrag; Amnestydekret von 1999 schützt nicht bei Aufenthalt im westlichen Ausland; keine zumutbare inländische Fluchtalternative im Nordirak ohne familiäre, gesellschaftlich oder politische Beziehungen; Lebensbedingungen in Flüchtlingslagern im Nordirak sind nicht menschenwürdig.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Zentralirak, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Amnestie, Strafverfolgung, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Versorgungslage, Existenzminimum, Hilfsorganisationen, Flüchtlingslager, Soziale Bindungen
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6; Irak. Dekret Nr. 110 v. 28.06.99
Auszüge:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht verurteilt, festzustellen, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 51 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 4 und 6 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen. Dem Kläger droht für den Fall der Rückkehr in den Zentralirak politische Verfolgung deshalb, weil der einen Asylantrag gestellt und sich unerlaubt im Ausland aufgehalten hat.

Der Aufenthalt im westlichen Ausland, die illegale Ausreise und der Asylantrag lösen eine Befragung durch die Sicherheitsdienste aus, denen der Aufenthalt im westlichen Ausland erklärungsbedürftig erscheint (Lagebericht AA vom 20.03.2002 S.15, DOI vom 03.08.01 an Verwaltungsgericht Aachen, Algemeen ambtsbericht Noord-lrak/april 2001). Es besteht nämlich nach wie vor ein gewisses Unverständnis, wenn "...die Heimat und naturgemäß die gloriose Führung einfach so verlassen werden..." und ein Iraker "...lange Zeit ohne Rückversicherung und ohne Absprache mit den Heimatbehörden im westlichen Ausland..." lebt. Ein bei einer solchen Befragung auftretender geringster Verdacht oppositioneller Tätigkeit oder belastende Umstände aus dem Vorleben führen zu weiteren Maßnahmen. Ein solcher Verdacht (genauer: derartige "besondere Aufmerksamkeit") der Sicherheitsdienste kann sich etwa daraus ergeben, dass der Asylbewerber vor seiner Ausreise nach Westeuropa im Nordirak für ausländische Nichtregierungsorganisationen (NGO s) gearbeitet hat (AA vom 24.03.2000 an VG Trier), dass er exilpolitisch tätig geworden ist (AA Lagebericht vom 20.03.2002, S. 19), wobei auch schon ungünstige "Informationen", die ein anderer Auslandsiraker weitergegeben hat, ausreichend sein können (DOI vom 31.10.2000 an Verwaltungsgericht Lüneburg). Selbst das Misstrauen der Behörden gegen einen Familienangehörigen kann eine Gefährdung hervorrufen (DOI vom 31.10.2000). Einem besonderen Unverständnis - mit der Folge, dass ihnen eine Regimegegnerschaft unterstellt wird - sind ferner solche Personen ausgesetzt, die aus irakischer Sicht dem Staat zu besonderer Loyalität verpflichtet sind, wie etwa Staatsangestellte, Offiziere, Akademiker oder Mitglieder der Baath-Partei (DOI vom 31.10.2000 an Verwaltungsgericht Lüneburg, UNHCR vom 3. April 2001 an Verwaltungsgericht Ansbach).

Diese Verdachtsmomente dürfen aber nicht dahin verstanden werden, dass die Sicherheitsdienste nur bei Vorliegen eines begründeten "Anfangsverdachtes" tätig würden (so offenbar die neuere Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Mainz, vgl. etwa U.v.15.04.2002, 6 K 230/02). Da die "Effektivität" der Sicherheitsdienste nicht nachgelassen hat und diese nach wie vor willkürlich und unsystematisch, rücksichtslos und allein der Machterhaltung verpflichtet vorgehen, muss vielmehr jeder Rückkehrer damit rechnen, dass der jeweilige Amtswalter aus diesem oder jenem Grund sein Verhalten im Ausland für nicht plausibel erachtet und im Sinne einer Regimegegnerschaft interpretiert.

Der Umstand, dass das irakische Regime nach außen hin (vgl. Dekret Nr. 110 vom 28.06.1999) den Verzicht auf die Strafverfolgung und Bestrafung von "Landesflüchtlingen" erklärt hat, führt zu keiner abweichenden Beurteilung. Amnestien wurden vom Regime Saddam Husseins in den zurückliegenden Jahren immer wieder erlassen. Sie dienten eher propagandistischen Zwecken, werden aber - entsprechend der totalitären Grundstruktur des Regimes - nicht tatsächlich beachtet (vgl. Deutsches Orient-Institut vom 05.09.00 an VG Osnabrück). Zwar haben das Auswärtige Amt und der UNHCR ihre anfänglichen Bedenken gegen die Wirksamkeit des Dekrets Nr. 110 vom 28.06.1999 (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 25.10.1999, vom 15.02.2001 und vom 05.09.2001) jetzt offenbar aufgegeben (AA Lagebericht vom 20.03.2002). Dies beruht wohl darauf, dass inzwischen aufgrund eines Abkommens zwischen dem Iran und dem Irak über die wechselseitige Rückkehr von Flüchtlingen früher in den Iran geflüchtete Iraker von dort in den Machtbereich Bagdads zurückgekehrt sind und hinsichtlich dieser Personen "... keine negativen Erkenntnisse über die Behandlung nach ihrer Rückkehr..." vorliegen. Daraus kann aber nichts für die Folgen eines Aufenthalts im westlichen Ausland hergeleitet werden, dem das Regime mit besonderen Vorbehalten gegenübersteht (vgl. VGH BW, B.v. 28.01.02, A 2 S 1052/02).

Die somit dem Kläger im zentralirakischen Herrschaftsbereich drohende Verfolgung ist im Rahmen des § 51 Abs. 1 AuslG jedoch nur dann von Bedeutung, wenn ihm keine inländische Fluchtalternative im Nordirak zur Verfügung steht.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats stellt der Nordirak in der Regel für einen im Zentralirak politisch verfolgten Iraker keine innerstaatliche Fluchtalternative dar.

An dieser Einschätzung hält der Senat auch unter Berücksichtigung der inzwischen vorliegenden Auskünfte, Gutachten, Berichte etc. im Ergebnis fest. Zwar hat sich die allgemeine wirtschaftliche Lage im Nordirak infolge der Lieferungen im Rahmen des "Oil-for-Food-Programms", des Einsatzes von UN-Organisationen und ausländischer Nichtregierungsorganisationen (NGO s) sowie der Gewinne aus Transitgebühren und Schmuggelaktivitäten (AA Lagebericht vom 20.03.2002) weiter kontinuierlich verbessert; die allgemeinen Lebensumstände dürften sich auch günstiger entwickelt haben als die Zustände im Zentralirak. Es mag sich dadurch auch eine Verbesserung der Situation für einen aus dem Zentralirak stammenden Flüchtling im Nordirak ergeben haben (vgl. im Einzelnen OVG Sachsen-Anhalt, U. v. 06. Dez. 2001,1 L 2/01; VGH BW U. v. 11. April 2002, A 2S 712/01). Nach den vorliegenden Auskünften erscheint es dem Senat nicht mehr zweifelhaft, dass dort über die UNO die Unterbringung in einem Flüchtlingslager und eine Nahrungsmittelgrundversorgung sichergestellt ist. Gleichwohl ist aber eine menschenwürdige Existenz auf bescheidenem Niveau, in den Lagern kaum möglich.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände kann der Kläger des vorliegenden Verfahrens nicht auf das verfolgungsfreie Gebiet des Nordirak als Fluchtalternative verwiesen werden. Nach seinem widerspruchsfreien Sachvortrag lebte er vor seiner Ausreise bei seiner Mutter und hatte ein bescheidenes wirtschaftliches Auskommen als Inhaber einer Autoreparaturwerkstatt. Im Vergleich dazu würde das ihn wegen fehlender "Beziehungen" erwartende Leben in einem Flüchtlingslager am unteren Rand des Existenzminimums eine gravierende Verschlechterung der Lebensumstände bedeuten.