VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 02.09.2002 - 1 A 3691/99 - asyl.net: M2593
https://www.asyl.net/rsdb/M2593
Leitsatz:

In Aserbaidschan liegt keine Gruppenverfolgung von armenischen Volkszugehörigen mehr vor; § 51 Abs. 1 AuslG aufgrund Verfolgung wegen armenischer Volkszugehörigkeit im Einzelfall; Staat unternimmt nur in Ausnahmefällen etwas gegen Übergriffe auf armenische Volkszugehörige durch Private; keine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach für Personen, die nicht aus dem Gebiet stammen.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Russen, Gemischt-ethnische Abstammung, Übergriffe, Polizisten, Misshandlungen, Glaubwürdigkeit, Vorverfolgung, Gruppenverfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Amtswalterexzesse, Zurechenbarkeit, Schutzbereitschaft, Interne Fluchtalternative, Berg-Karabach
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

 

Die Kläger haben einen Anspruch darauf, dass die Beklagte Abschiebungshindernisse nach § 51 Abs. 1 AuslG bezüglich Aserbaidschan feststellt.

Sie haben Aserbaidschan im September 1999 als politisch Verfolgte verlassen. Zwar bestand dort zu diesem Zeitpunkt nach Auffassung des Gerichts aufgrund neuerer Erkenntnismittel keine Gruppenverfolgungssituation für armenische Volkszugehörige, ihre Ehepartner und Abkömmlinge mehr (vgl. Urteile des VG Oldenburg u.a. vom 19. Dezember 2000 - 1 A 1162/00 - und - 1 A 2075/00 -), für sie bestand jedoch zur Überzeugung des Gerichts bei ihrer Ausreise eine individuelle Verfolgungssituation. Sie haben nämlich für das Gericht widerspruchsfrei und nachvollziehbar dargelegt, dass sie abschiebungshindernisrelevante Übergriffe von Staatsbediensteten und Dritten erleiden mussten.

Dabei hält das Gericht zunächst für glaubhaft, dass die Klägerin zu 2) zur Hälfte armenischer Abstammung und der Kläger zu 1) daher Ehepartner einer armenischen Volkszugehörigen, die Klägerin zu 3) Abkömmling einer solchen ist.

Das Gericht ist weiterhin davon überzeugt, dass es sich bei dem Vorfall vom (...) um eine wahre Begebenheit handelte. Für die Glaubhaftigkeit sprechen insbesondere auch die erneuten Schilderungen des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2), die während der Verhandlung einzeln angehört wurden. Auf gezielte einzelne Nachfrage machten sie z.B. übereinstimmende Angaben zum genauen zeitlichen Ablauf des Übergriffs der Polizeibeamten und zu Einzelheiten. Ein solcher Übergriff ist dem aserbaidschanischen Staat in Einzelfällen - wie hier - vor dem Hintergrund der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel auch heute noch zuzurechnen und es kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass es zu erneuten relevanten Übergriffen kommt. Zwar besteht - wie gesagt - in Aserbaidschan heute für armenische Volkzugehörige (und ihre Angehörigen) keine Gruppenverfolgungssituation mehr. Noch im Lagebericht vom 13. April 1999 (Stand: März 1999, S. 4) ging das Auswärtige Amt von einer im hohen Maße bestehenden mittelbaren staatlichen Verfolgung aus (vgl. auch Lageberichte vom 22. Oktober 1998, 17. Februar 1998, 21. Juli 1997, 16. Januar 1997, 10. April 1996). Nach den im wesentlichen übereinstimmenden vom Gericht ausgewerteten Berichten verschiedener staatlicher Stellen und Nichtregierungsorganisationen haben die Armenier in Aserbaidschan auch heute noch unter zahlreichen Nachteilen zu leiden. So ist festzustellen, dass sie zugunsten von Flüchtlingen aus Armenien oder den armenisch besetzten Gebieten auf ihre Wohnungen verzichten müssen. Auch über kriminelle Übergriffe gegen den übrigen Besitz wird berichtet. Darüber hinaus ist die Zahlung von Renten und Pensionen verweigert worden. Außerdem gibt es Benachteiligungen bei der Arbeitsplatzsuche und Schikanen am Arbeitsplatz. Schwierigkeiten kann es auch beim Schulbesuch armenischstämmiger Kinder geben. Auch gibt es immer wieder Berichte über die Nichtausstellung von Pässen und anderen amtlichen Urkunden. Ferner soll alleinstehenden Armenierinnen die Erlaubnis zum Verlassen der Hauptstadt Baku entzogen worden sein. Schließlich wird über die Verweigerung medizinischer Hilfe berichtet (vgl. dazu vor allem Auswärtiges Amt Lageberichte vom 13. September und 16. März 2000 aaO; International Helsinki Federation of Human Rights, Jahresbericht 2000, S. 62; Bericht der dänischen Flüchtlingsbehörde aaO, S. 12 f.; US-Department of State aaO; Auskunft der Gesellschaft für bedrohte Völker an das Verwaltungsgericht Hamburg vom 12. Mai 1999; Bericht von Dr. Anna Matveeva aaO; Freedom in the World, Jahresbericht 1999/2000, S. 3). Darüber hinaus gibt die Gesellschaft für bedrohte Völker (aaO, S. 6) an, dass Armenierinnen allein wegen ihrer ethnischen Abstammung inhaftiert, misshandelt und gefoltert worden seien. Auch hätten aserbaidschanische Partner ihren armenischen Frauen die Kinder weggenommen. Ferner wird darauf hingewiesen, dass es nach der Zerstörung sämtlicher Kirchen den Armeniern nicht mehr möglich sei, ihren christlich-apostolischen Glauben auszuüben. Übereinstimmend berichten alle genannten Quellen, dass der aserbaidschanische Staat gegen solche Übergriffe einzelner Amtswalter oder von Privaten allenfalls in Ausnahmefällen etwas unternimmt. Der Annahme einer politischen Verfolgung steht deshalb nicht entgegen, dass es sich vielfach um Maßnahmen handelt, die nicht unmittelbar auf den Staatsapparat zurückzuführen sind. Eine Einzelverfolgung liegt aber vor diesem Hintergrund durchaus im Bereich des Möglichen.

Für die Kläger besteht schließlich in Aserbaidschan auch keine inländische Fluchtalternative. Grundsätzlich kann das Gebiet Berg-Karabach schon nur als eine solche für armenische Volkszugehörige angesehen werden und dies auch nur dann, wenn die Betroffenen von dort stammen. Das Auswärtige Amt führt aus: "Nach Angaben des Vertreters von Nagorny-Karabach in Armenien besteht die Möglichkeit, über das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Armenien und der in Eriwan befindlichen Vertretung von Nagorny-Karabach Dokumente für eine Rückkehr von Bewohnern aus Nagorny-Karabach über die Republik Armenien zu bekommen. Das bedarf aber der Antragstellung und der Überprüfung, ob der Betreffende tatsächlich aus Nagorny-Karabach stammt. "Demnach ist anzunehmen, dass ein auf längere Dauer angelegter Aufenthalt in Nagorny-Karabach armenischen Volkszugehörigen nur noch dann möglich ist, wenn ihnen Papiere unter den genannten Voraussetzungen ausgestellt werden. Die Kläger können nicht darauf verwiesen werden, dass nach dem Bericht der Dänischen Flüchtlingsbehörde (EU vom 1. September 2000 - Danish Delegation -) bei verschiedenen Vertretungen Berg-Karabachs im Ausland Visa für 25 Dollar erworben werden können. Denn im Zusammenhang mit den Angaben des Auswärtigen Amtes kann nicht angenommen werden, dass mit Hilfe derartiger Visa ein dauerhafter Aufenthalt in Berg-Karabach möglich ist. Dies führt im vorliegenden Fall dazu, dass Berg-Karabach für die Kläger als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht kommt. Denn eine inländische Fluchtalternative kann nur dann angenommen werden wenn feststeht, dass dem Asylbewerber die Rückkehr in eine solche Region des Heimatstaates dauerhaft zumutbar möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Januar 2001 - 9 C 16/00 - DVBI. 2001, S. 667). Da nur die Klägerin zu 2) (halb-) armenischer Herkunft ist und die Kläger nachweislich aus Baku stammen, scheidet die genannte Fluchtalternative also für sie aus.