VG Lüneburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 22.04.2002 - 1 A 1/98 - asyl.net: M2596
https://www.asyl.net/rsdb/M2596
Leitsatz:

Anspruch auf Aufenthaltsbefugnis eines vietnamesischen Staatsangehörigen, dessen Rückübernahme von Vietnam seit Jahren verweigert wird; Gefahr der erniedrigenden Strafe oder Behandlung gem. Art. 3 EMRK bei Rückkehr nach langjährigem Aufenthalt in Europa; daher Rückkehr nach Vietnam unzumutbar; Möglichkeit der Bestechung, um Heimreisepapiere zu bekommen, hat außer Acht zu bleiben; Anspruch auf Aufenthaltsbefugnis bei Verweigerung der Heimreisepapiere.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Vietnamesen, Aufenthaltsbefugnis, Duldung, Abschiebungshindernis, Tatsächliche Unmöglichkeit, Freiwillige Ausreise, Zumutbarkeit, Reisedokumente, Einreiseverweigerung, Rückübernahmeabkommen, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AuslG § 30 Abs. 3; AuslG § 30 Abs. 4
Auszüge:

 

Der Kläger hat Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis gemäß § 30 AuslG.

Da der Kläger bisher nicht ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 AuslG also nicht zum Zuge kommt, kann der Kläger eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG beanspruchen. Diese Vorschrift stellt ebenso wie die anderen Absätze eine allgemeine Härteklausel neben § 70 AsylVfG dar (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 30 AuslG Rdn. 2), die u.a. dann eingreift, wenn Abschiebungshindernisse vorliegen und die Abschiebung (aus rechtlichen oder auch nur tatsächlichen Gründen) für einige Zeit - nicht nur vorübergehend - unmöglich ist. Dabei ist der gesetzlich bestehende Ermessenspielraum zum Zwecke der Reduzierung von Dauerduldungen "möglichst auszuschöpfen, insbesondere in den Fällen, in denen sich eine Rückkehrmöglichkeit weiterhin nicht abzeichnet" (so ausdrücklich der Erlass des Nds.MI v. 21.1.2002 - 45.2-12230/1-1 , § 30).

Der Kläger ist ohne Frage unanfechtbar ausreisepflichtig: Hierfür reicht es aus, dass er kraft Gesetzes vollziehbar ausreisepflichtig iSv § 42 AuslG ist (VG Stuttgart, InfAuslR 1996, 423). Für einen Anspruch aus § 30 Abs. 3 AuslG kommt es auf die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 AuslG an, nämlich u.a. auf die Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen. Insoweit enthält § 30 Abs. 3 AuslG eine Rechtsgrundverweisung (Nds. OVG v. 19.4.1996 - 4 M 625/96 -, NVwZ-Beilage 1996, 87 m.w.N.; Nds. OVG v. 20.1.1997 - 4 M 7062/96 -, NVwZ-Beilage 1997, 28 = AuAS 1997,154-155; Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, Bd. 1, Loseblattsammlung/Std. Juli 2001, § 30 Rdn. 107), deren Voraussetzungen hier gegeben sind, zumal es bei § 55 Abs. 2 AuslG gar nicht darauf ankommt, ob der Ausländer auch - worauf der Beklagte abzustellen versucht - freiwillig ausreisen könnte (BVerwG, NVwZ 1998, 297). Im Übrigen ist es nach dem gen. Erlass des Nds.MI v. 21. Januar 2002 so, dass dann, "wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen, ...diese Gründe regelmäßig auch einer freiwilligen Ausreise entgegen(stehen). Dies ist auch der Fall, wenn die Rückkehr unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation unzumutbar ist" - Pkt. 3 letzter Absatz d. Erl.. Hierbei ist der Ermessensspielraum "grundsätzlich zugunsten der ausländischen Staatsangehörigen auszuschöpfen, um langjährige Duldungszeiten möglichst zu vermeiden" (Pkt. 3 vorletzter Abs. d. Erl.). Das ist der Sinn und Zweck des § 30 Abs. 3 AuslG. Demgemäß ist im Gegensatz zum angefochtenen Bescheid v. 30.1.1997, demzufolge die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis "zwingend" ausgeschlossen sei, solange (noch) eine freiwillige Ausreise möglich sei, vielmehr in Übereinstimmung mit dem Gesetzeszweck und dem gen. Erlass davon auszugehen, dass schon bei Vorliegen entsprechender Gründe (s.o.) oder aber bei Unzumutbarkeit einer Rückkehr eine Rückkehrmöglichkeit für den betreffenden Ausländer nicht mehr angenommen werden kann. Seine Rückkehr ist damit im vorausgesetzten Sinne unmöglich.

Nachdem der Kläger hier bisher keine Ausweispapiere von der XX Botschaft hat erhalten können, obwohl Anträge auf Rückübernahme seitens des Beklagten unter Vorlage des Reisepasses des Klägers gestellt worden sind (am 15.1.1996), liegt es so, dass aus tatsächlichen Gründen - dem Verweigern seitens der XX Behörden bzw. dem Fehlen von Einreisepapieren - sowohl eine Ausreise wie auch eine Abschiebung derzeit unmöglich sind. Damit liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis vor. Denn diese kommt gem. § 30 Abs. 3 AuslG "vorrangig dann in Betracht, wenn die Abschiebung... aus rechtlichen Gründen auf einen längeren Zeitraum gesehen unmöglich erscheint. Denn mit Hilfe einer Duldung kann die Abschiebung nur zeitweise ausgesetzt werden...; auch kommt ihr nicht die Funktion eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts zu" (OVG Bautzen, InfAuslR 2000, 76/77).

Es fehlt hier an der Aufnahmebereitschaft des XX Staates, so dass eine Ausreise des Klägers insgesamt nicht möglich ist. Nach Auffassung des BMI v. 30.9.1997 (Az. A 2b - 125610 VIE / 1) fallen auch XX Staatsangehörige, die freiwillig nach XX zurückkehren wollen, in den Anwendungsbereich des mit XX geschlossenen Rückübernahmeabkommens, "sofern sie nicht im Besitz von gültigen Heimreisedokumenten (einschließlich Heimreisevisum) sind". In Art. 1 dieses Abkommens ist ein Übernahmeermessen festgelegt, dem sich ein mehrstufiges Verfahren nebst Überprüfung der einschlägigen Unterlagen anschließt (Art. 2 ff. des Protokolls). Von ca. 20.000 an das vietnamesische Innenministerium weitergeleiteten Anträgen auf Rückübernahme sollen so über 5000 zurückgegeben worden sein (Stand 1997, Sitzung der Arbeitsgemeinschaft "Rückführung" am 29./30. Juli 1997 in Düsseldorf). Nach Auskunft der Grenzschutzdirektion Koblenz sind verschiedene Rückführungsanträge (u.a. in der Sache 1 A 135/97) von der XX Seite "ohne Einzelfallbegründung" und lediglich mit allgemeinen Ausführungen abgelehnt worden. Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge stellt jedoch der XX Staat auch außerhalb des gen. Abkommens die erforderlichen Reisedokumente (u.a. Heimreisevisum) nicht aus, u.zw. vor allem dann nicht, wenn klar wird, dass der Antragsteller früher als Vertragsarbeitnehmer in der XX in XX usw. tätig war. In diesen Fällen verneint die jeweilige XX Botschaft ihre "Zuständigkeit". Die Möglichkeit, über Bestechungsgelder Zutritt zur vietnamesischen Botschaft und letztlich auch zu Heimreisepapieren zu erlangen, hat hier außer Betracht zu bleiben. Das Motiv für diese Weigerung des XX Staates und dessen "Völkerrechtswidrigkeit" ist im Rahmen von § 30 Abs. 3 AuslG ohne jede Bedeutung. Unter diesen Umständen gehört es nicht mehr zu den Obliegenheiten des Klägers, eine Einreise nach XX tatsächlich zu versuchen. Denn solche Versuche sind dann nicht mehr zumutbar, wenn sie von vorneherein aussichtslos sind (BVerwG, Urt. v. 15.2. 2001 - BVerwG 1 C 23.00 - ).

Diese tatsächlichen wie rechtlichen Hindernisse für eine freiwillige Ausreise bzw. Abschiebung hat der Kläger nicht etwa zu vertreten: Es ist gerichtsbekannt, dass vom XX Staat Heimreisepapiere an "Renegaten" nicht ausgegeben werden, dieser Staat die Rückreise solcher Personen nicht wünscht bzw. behindert, was angesichts der bekannt gewordenen "N-Liste" plausibel ist. Art und Umfang einer - freiwilligen - Mithilfe des Klägers haben dabei kein Gewicht, da die Grenzschutzdirektion Koblenz die Angaben in allen Rückübernahmeanträgen selbständig noch in die Form des Selbstangabe-Vordrucks umsetzt (so Antwort des Staatssekretärs Schapper auf Frage 13 der KI. Anfrage gem. Presseinformation des Nds. MI v. 5.8.1997), um eine Bearbeitung durch die vietnamesische Seite sicher zu stellen.

Selbst dann, wenn man mit dem Beklagten davon ausgehen wollte, für den Kläger, dessen Abschiebung nicht möglich ist, sei eine freiwillige Ausreise noch irgendwie denkbar und auch tatsächlich möglich, so wäre sie ihm als solche jedenfalls nicht zuzumuten. Im Falle des Zielstaates Vietnam ist für den Kläger mit erniedrigenden Strafen oder Behandlungen iSv Art. 3 EMRK zu rechnen, da das diktatorische Regime in Vietnam Ausländer, die lange in Europa gelebt haben, möglicherweise - was von Zufällen abhängt - nicht iSd Art. 3 und 6 EMRK fair behandeln wird, sondern sie in aller Regel zunächst in Erstaufnahmelager verbringt, aus denen die Rückkehrer erst "nach einigen Tagen, häufig gegen Bezahlung eines Bestechungsgeldes, wieder frei" kommen (so Gutachten von amnesty intern. v. 4.6.1998, S. 2). Eine dann folgende dauerhafte Internierung bzw. sogar Verhaftung ist möglich (ai, aaO., S. 3). Auch die Heranziehung zu unbezahlter Arbeit und anderen (sklavenähnlichen) Diensten ist nach den Erkenntnissen der Kammer nicht auszuschließen. Somit liegen ausreichende Gründe in dem Sinne vor, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in sein Herkunftsland "einem tatsächlichen Risiko ausgesetzt wäre, dort einer von Art. 3 EMRK verbotenen Behandlung unterworfen zu werden" (EGMR, Kammer - 3. Sektion, Urt. v. 6.3.2001, InfAuslR 2001, S. 417). Da der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis an den Kläger keine Regelversagungsgründe entgegenstehen, der Kläger bereits seit vielen Jahren immer wieder Duldungen erhalten hat und dieser Zustand aller Voraussicht nach noch fortbestehen wird, was u.a. dem Sinn des gen. Erlasses des Nds.MI v. 21.2.2002 - Reduktion von Dauerduldungen - eindeutig widerspricht, ist nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung aller Gesamtumstände eine sog. Ermessensreduzierung auf Null festzustellen - mit der Folge, dass der Kläger einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis gem. § 30 Abs. 3 AuslG hat.