VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Beschluss vom 06.10.2017 - 1 L 7132/17.GI.A - asyl.net: M25994
https://www.asyl.net/rsdb/M25994
Leitsatz:

"Versteinerungsregel" nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO gilt auch für die Minderjährigkeit:

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Einstufung als minderjährig im Sinne der Dublin-Verordnung ist der Zeitpunkt der Einreise in die EU bzw. des ersten in der EU gestellten Asylantrags.

Schlagwörter: Dublinverfahren, minderjährig, unbegleitete Minderjährige, Volljährigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Versteinerung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 8 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Zuständigkeit der Bundesrepublik folgt aus Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO. Nach dieser Regelung ist, wenn es sich bei dem jeweiligen Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, bei Abwesenheit eines Familienangehörigen, eines seiner Geschwister oder eines Verwandten im Sinne von Art. 8 Abs. 1, Abs. 2 Dublin III-VO derjenige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in dem der unbegleitete Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, sofern es  dem Wohl des Minderjährigen dient.

Der Antragsteller ist ein unbegleiteter Minderjähriger im Sinne dieser Bestimmung.

Gemäß Art. 2 lit. i) Dublin III-VO handelt es sich bei Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren um Minderjährige. Unbegleitet ist der Minderjährige gemäß Art. 2 lit. j) Dublin III-VO dann, wenn er ohne Begleitung eines für ihn nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt einen Minderjährigen ein, der nach Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wird.

Weiterhin ist bei der Bestimmung des nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaats gemäß Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Auch für die Frage, ob der betreffende Antagsteller minderjährig ist und somit die Zuständigkeitsbestimmungen des Art. 8 Dublin III-VO Anwendung finden, die aufgrund der Rangfolgenregelung gemäß Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO den übrigen Zuständigkeitsbestimmungen im Kapitel III vorgehen, kommt es allein auf den Zeitpunkt der ersten Antragstellung an (Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum Asylgesetz, Stand Juni 2017, II - § 29 Rn. 80). Minderjährig im Sinne von Art. 8 Dublin III-VO ist somit ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zu dem Zeitpunkt, zu dem er zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, unter 18 Jahre alt war (VG Magdeburg, Beschluss vom 03.07.2017 - 8 B 283/17 -, juris, Rn. 2; VG Düsseldorf, Urteil vom 25 11.2016 - 12 K 8138/16.A -, juris, Rn. 23; VG München, Urteil vom 08.06.2016 - M 24 K 14.50339 -, juris, Rn. 22; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 04.08.2015 - 7a K 254/15.A -, juris, Rn. 25; VG Aachen, Beschluss vom 22.04.2015 - 5 L 15/15.A -, juris, Rn. 35). Die Gegenansicht, die unter Hinweis auf den nach Eintritt der Volljährigkeit nicht mehr einschlägigen Zweck des Minderjährigenschutzes die Anwendbarkeit der sog. Versteinerungsregel des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO auf die Frage der Minderjährigkeit verneint (VG Düsseldorf, Beschluss vom 28.09.2016 - 13 L 1014/16.A -, juris, Rn. 53; VG Minden, Urteil vom 27.01.2015 - 10 L 820/14.A -, juris, Rn. 18) berücksichtigt nicht hinreichend, dass sich diese Vorschrift auf die zum Schutz von Minderjährigen in Art. 6 Dublin III-VO normierten Garantien gerade nicht bezieht, so dass die Anwendung dieser Regelungen nach Eintritt der Volljährigkeit des jeweiligen Antragstellers entfällt, soweit nicht Art. 6 Abs. 4 Dublin III-VO ausdrücklich auf die Durchführung des Art. 8 Dublin III-VO Bezug nimmt. Für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach den Kriterien des Kapitels III stellt jedoch Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO ohne Einschränkungen für sämtliche Zuständigkeitsbestimmungen gemäß Art. 8 bis Art. 15 Dublin III-VO auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung ab. Sowohl die systematische Stellung des Art. 8 Dublin III-VO, der dem Art. 7 Dublin III-VO direkt folgt, als auch die Erwähnung von Art. 8 in Art. 7 Abs. 3 Dublin III-VO und somit in dem Absatz, der sich unmittelbar an die in Abs. 2 normierte Versteinerungsregel anschließt, weisen darauf hin, dass die Vorschrift des Art. 8 Dublin III-VO gerade nicht vom Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO ausgenommen ist. Der durch Art. 8 Dublin III-VO bezweckte Minderjährigenschutz steht dieser Auslegung nicht entgegen, da dieser Schutz nicht geschmälert, sondern erweitert wird, wenn die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der erstmaligen Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat ausreicht, um die Anwendung der den Minderjährigen begünstigenden Zuständigkeitsregelungen auch bei späteren Asylanträgen, die nach Eintritt der Volljährigkeit gestellt werden, zu begründen. Begünstigt werden hierdurch sämtliche Personen, die als unbegleitete Minderjährige in das Gebiet der Mitgliedstaaten eingereist sind und noch vor Vollendung des 18. Lebensjahres erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. [...]