VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 21.02.2018 - 22 L 442/18.A - asyl.net: M26048
https://www.asyl.net/rsdb/M26048
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung zur Dublin-Familienzusammenführung bei Ablauf der Überstellungsfrist:

 

Das BAMF hat die Dublin-Familienzusammenführung aus Griechenland nach Deutschland innerhalb von drei Wochen nach Ablauf der Überstellungsfrist zu bewirken. Zudem muss das BAMF sich noch innerhalb der Überstellungsfrist für das Asylverfahren der in Griechenland befindlichen Familienmitglieder auch über den Ablauf der Frist für zuständig erklären.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Familienzusammenführung, Griechenland, Dublin III-Verordnung, Familiennachzug, minderjährig, einstweilige Anordnung, Übernahmeersuchen, Überstellungsfrist, Überstellung, Beschränkung, Deckelung, Verlangsamung, Verwaltungspraxis, vorläufiger Rechtsschutz, Vorwegnahme der Hauptsache, subjektives Recht, Drittschutz, drittschützend, Kindeswohl, Achtung des Familienlebens, Kontingent, Kontingentierung, Familieneinheit, Selbsteintritt, effektiver Rechtsschutz,
Normen: VO 604/2013 Art. 10, VO 604/2013 Art. 2 Bst. g, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 21, VO 604/2013 Art. 22, VO 604/2013 Art. 29, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 , VO 604/2013 Art. 6, VO 604/2013 Art. 22 Abs. 7, VwGO § 123, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Der Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Dringlichkeit einschließlich drohenden Rechtsverlusts ist glaubhaft gemacht. Die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO endet auf der Grundlage der Zustimmung der Antragsgegnerin vom 22. August 2017 zum Übemahmeersuchen Griechenlands mit Ablauf des 22. Februar 2018, also morgen. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO verlängert hatte, liegen nicht vor. Soweit bekannt halten sich die Antragsteller zu 3. und 4. vorschriftsmäßig in der Flüchtlingsunterkunft in Perama bei Athen in Griechenland auf. Von einem Untertauchen, was zu einer Einschätzung als "flüchtig" und damit zu einer Fristverlängerung gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO führen würde, ist nichts bekannt. Ein solches (rechtswidriges) Verhaften kann den Antragstellern zu 3. und 4. nicht angesonnen werden, um den drohenden Ablauf der Überstellungsfrist und den Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland abzuwenden. Die mit dieser Anordnung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache ist zulässig, da ansonsten bei Ablauf der Überstellungsfrist ein nicht umkehrbarer Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland einträte und die Familieneinheit der Antragsteller auf unabsehbare Zeit getrennt bliebe. Dies ist unzumutbar und rechtfertigt die ausnahmsweise Vorwegnahme der Hauptsache für den Zeitraum bis zu einer eventuellen späteren Entscheidung in einer noch nicht anhängigen Hauptsache.

Die Antragsteller haben zunächst einen Anspruch auf Überstellung der Antragsteller zu 3. und 4. innerhalb der Überstellungsfrist in das Bundesgebiet.

Es besteht derzeit eine Zuständigkeit Deutschlands für die Prüfung des Antrags auf den Schutz der Antragsteller zu 3. und 4. gemäß Art. 10 der Dublin III-Verordnung.

Nach diesen Maßgaben geht die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz wohl am 22. Februar 2018 auf Griechenland als den ersuchenden Mitgliedstaat über. Nach dem klaren Wortlaut der Verordnung ist es unerheblich, ob eine Überstellung der Antragsteller zu 3. und 4. auch noch nach Ablauf dieser Frist erfolgen kann, wie es eventuell Praxis des Bundesamtes im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern sein könnte, worauf das Antragsvorbringen hindeutet. Das Bundesamt sah sich nicht veranlasst, auf die gerichtlichen Kontaktaufnahmen irgendeine allgemeine oder konkret auf die Antragsteller zu 3. und 4. bezogene Prozesserklärung abzugeben. Vor diesem Hintergrund war zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes diese einstweilige Anordnung gegenüber der Antragsgegnerin wie aus dem Tenor ersichtlich erforderlich.

Der Anspruch ergibt sich materiell-rechtlich aus Art. 10 Dublin III-Verordnung. Diese Norm der Dublin III-Verordnung ist dahingehend auszulegen, dass jedenfalls in einer Fallgestaltung wie der vorliegenden, in der das Bundesamt der Aufnahme von Familienangehörigen zum Zwecke der Familienzusammenführung zu sich rechtmäßig in Deutschland aufhaltenden Familienmitgliedern auf der Grundlage von Art. 10 Dublin III-VO zugestimmt hat, ein Anspruch auf Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist folgt. Dies ergibt sich aus Sinn und Zweck der Dublin III-Verordnung: [...]

Diese Erwägungen werden konkretisiert durch Art. 6 Dublin III-Verordnung, der Garantien für Minderjährige enthält und das Wohl des Kindes in allen Verfahren nach der Dublin III-Verordnung als vorrangige Erwägung vorgibt. Hier ist sowohl im Bundesgebiet ein minderjähriges Kind mit einem Elternteil und ein anderes minderjähriges Kind mit dem anderen Elternteil befindet sich in Griechenland. Das Kindeswohl streitet für die Zusammenführung der Familie (ebenso im Ergebnis einen Anspruch auf Überstellung von Familienangehörigen innerhalb der Überstellungsfrist von Griechenland nach Deutschland aus Art. 8, 9 oder 10 Dublin III-VO oder einen Anspruch auf Überstellung außerhalb der Überstellungsfrist und entsprechender Mitteilungen des Bundesamtes an die griechischen Behörden annehmend: VG Wiesbaden, Beschluss vom 15. September 2017 - 6 L 4438/17.A -, juris; VG Düsseldorf, Beschluss vorn 24. Oktober 2017 - 12 L 4933/17.A -, juris; VG Halle (Saale), Beschluss vom 14. November 2017 - 5 B 858/17 -, juris; VG Berlin, Beschluss vom 23. November 2017 - 23 L 836.17 A -, juris; a.A VG Würzburg, Beschluss vom 2. November 2017 - W 2 E 17.50674 -, juris).

Der eigentlich in der Sache auf eine Überstellung der Antragsteller zu 3. und 4. in das Bundesgebiet vor Ablauf der Überstellungsfrist - also bis einschließlich zum morgigen Tage, 22. Februar 2018 - gerichtete Anspruch ist im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO durch eine Anordnung im Ermessen des Gerichts ohne strenge Bindung an den gestellten Antrag derart zu sichern, dass dem Anordnungsgrund Rechnung getragen wird und ein nicht rückgängig zu machender Rechtsverlust oder ein sonstiger unzumutbarer Nachteil abgewendet wird.

Ein Anspruch auf Überstellung von Griechenland nach Deutschland vor Ablauf der Überstellungsfrist kann allein gegenüber der Antragsgegnerin nicht bestehen, weil sie - worauf das VG Würzburg zu Recht hinweist (vgl. Beschluss vom 2. November 2017 - W 2 E 17.50674 -, juris Rdn. 11, 12) nach der Aufgabenverteilung durch die Dublin III-VO lediglich dazu verpflichtet ist, die entsprechenden Personen aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen (Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO), nicht hingegen zur Durchführung der eigentlichen Überstellung.

Der Anspruch auf Durchführung der Überstellung selbst bestünde somit konkret gegenüber der Hellenischen Republik Griechenland, weil diese gemäß Art. 29 Dublin III-VO für die Durchführung der Überstellung zuständig ist. Dieser gegenüber ist das erkennende Gericht jedoch nicht zu irgendwelchen Anordnungen befugt. Solche könnten allein vor den griechischen Verwaltungsgerichten begehrt werden.

Damit beschränken sich die Möglichkeiten der Antragsgegnerin in Bezug auf eine fristgemäße Überstellung der Antragsteller zu 3. und 4. nach Deutschland auf ihre Mitwirkungshandlungen und sonstigen Anteile im Überstellungsverfahren. Wäre somit eigentlich eine einstweilige Anordnung gegen die Antragsgegnerin zu richten, wie sie die Antragsteller beantragt haben, der griechischen Dublin-Einheit mitzuteilen, dass die Antragsteller zu 3. und 4. innerhalb der Überstellungsfrist in die Bundesrepublik Deutschland zu überstellen sind, so scheidet dies hier aus. Nach den Kenntnissen des Gerichts über das Dublin-System und die systemintern stattfindenden Überstellungen zwischen den Mitgliedstaaten im allgemeinen sowie die Überstellungen aus Griechenland in das Bundesgebiet im Besonderen und die damit verbundenen Zeitabläufe ist es ausgeschlossen, dass auf diese (heute 12:00 Uhr beschlossene) einstweilige Anordnung hin bis zum Ablauf des morgigen Tages eine Überstellung von Griechenland nach Deutschland trotz Anspannung und Nutzung aller administrativen Möglichkeiten realisiert wird.

Da die auf dieser Grundlage ausscheidende Verpflichtung zur Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist damit aufgrund der allein in der Sphäre der Antragsgegnerin und der Hellenischen Republik - jedenfalls außerhalb des Einflussbereichs der Antragsteller - liegenden tatsächlichen Verhältnisse und organisatorischen Vorkehrungen unmöglich gemacht worden ist, wandelt sich dieser Anspruch in einen Anspruch auf Überstellung auch noch nach rechnerischem Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO. In Anbetracht der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Antragsgegnerin und Griechenland ist gegenüber der Antragsgegnerin der Anspruch darauf beschränkt, dass diese auf die griechischen zuständigen Behörden mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einwirkt, die Überstellung nunmehr zeitnah zu bewirken. Hierfür hat das Gericht eine Frist von etwa drei Wochen festgesetzt, was für das Bundesamt eine Herausforderung darstellt und zu beschleunigten Vorgehensweisen und Kommunikationswegen führen dürfte und auch muss. Zugleich ist damit der Anspruch auf eine Mitteilung der Antragsgegnerin gegenüber den griechischen Behörden (Dublin-Unit usw.) verbunden, dass die Antragsgegnerin sich für die Antragsteller zu 3. und 4. auch nach dem 22. Februar 2018 für zuständig erklärt.

Für diesen Übergang von einem Anspruch auf Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist zu einem Anspruch auf Überstellung auch nach Verstreichen dieser Frist und einer entsprechenden Erklärung gegenüber den griechischen Behörden ist folgendes maßgeblich: Nach dem Eindruck des Gerichts auf der Grundlage des umfänglichen Vorbringens der Antragsteller einerseits und den in diesem Verfahren bei dessen Bearbeitung gewonnenen sonstigen Erkenntnissen bestehen Anhaltspunkte dafür, dass es nicht (allein) Folge des Verhaltens bzw. der organisatorischen Vorkehrungen der zuständigen Behörden in Griechenland ist, dass die Überstellung innerhalb der Frist gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO hier - und in vielen anderen Fällen - nicht stattfinden konnte. Die Antragsgegnerin scheint insofern aus verschiedenen Gründen auf die Abläufe Einfluss zu nehmen. Da die Überstellung, für deren Durchführung Griechenland zuständig ist, jedoch nicht stattfinden kann, ohne dass die Antragsgegnerin in der gehörigen Weise mitwirkt, ist offensichtlich, dass die Antragsgegnerin hier über Einflussmöglichkeiten und Steuerungsmechanismen verfügt und deshalb auch gegen sie sinnvollerweise ein Eilantrag gerichtet werden kann (anders VG Würzburg, Beschluss vom 2. November 2017 - W 2 E 17.50674 -, juris).

Ist die Antragsgegnerin aber mit gewisser Wahrscheinlichkeit - zumindest auch - dafür verantwortlich, dass die Überstellungsfrist nicht eingehalten werden wird, und trifft die Antragsteller selbst hieran hingegen überhaupt keine Verantwortung, so entspricht es der Rechtsschutzgarantie gemäß Art. 19 Abs. 4 GG eine einstweilige Anordnung mit dem hier formulierten Inhalt zu erlassen.

Soweit die Antragsgegnerin auch dazu verpflichtet wird, die Zuständigerklärung gegenüber den griechischen Behörden einerseits und die von ihr ergriffenen Maßnahmen gegenüber Griechenland zur Bewirkung der zeitnahen Überstellung an den Bevollmächtigten der Antragsteller mitzuteilen, so dient dies der verfahrensmäßigen Absicherung der getroffenen Anordnungen. Das Gericht ordnet hier eine Informationsübermittlung an den Prozessbevollmächtigten der Antragsteller (und nicht an das Gericht selbst) an, um nicht in der Rolle eines Akteurs zu sein, der einen Vorgang auch nach einer Entscheidung unter Kontrolle zu halten hat. Diese Verantwortung bleibt bei den Beteiligten. [...]