VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 08.02.2018 - A 2 K 7425/16 - asyl.net: M26084
https://www.asyl.net/rsdb/M26084
Leitsatz:

Beim Familienasyl ist auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung der nachgezogenen Angehörigen abzustellen:

Bei der Frage der Minderjährigkeit im Rahmen des Elternschutzes nach § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG ist der Zeitpunkt der Asylantragstellung der Eltern und nicht der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienflüchtlingsschutz, Familienasyl, minderjährig, Eltern, Beurteilungszeitpunkt, Asylantrag, Stammberechtigter, Antragstellung, Flüchtlingsanerkennung, Minderjährigkeit, Asylantragstellung, Familienangehörige,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3, AsylG § 26 Abs. 3 S. 1, AsylG § 26 Abs. 5 S. 1, AsylG § 26 Abs. 5 S. 2, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. j, AsylG § 12 Abs. 2 S. 1, AsylG § 26 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 23, AsylG 26 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[…]

L Die Kläger haben einen Anspruch auf Gewährung von Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 3, Abs. 5 Satz 1, Satz 2 AsylG. […]

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Dabei kann offen bleiben, ob die Beklagte dem Sohn ... bereits die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt hat. Denn die rechtskräftige gerichtliche Verpflichtung der Beklagten ist der unanfechtbaren Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gleichzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.05.2009 - 10 C 21.08 -, NVwZ 2009, 1308; VG Lüneburg, Urt. v. 06.09.2017 - 3 A 156/17 -, juris). […]

Der am … 1999 geborene stammberechtigte Sohn ... war im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Asylantragstellung der Kläger am ... 2016 auch noch unter 18 Jahre alt und damit minderjährig (vgl. § 12 Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 2 BGB). Denn maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Frage der Minderjährigkeit im Rahmen des "Elternschutzes" nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist der Zeitpunkt der Asylantragstellung der Eltern und nicht der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. ebenso VG Hamburg, Urt. v. 05.02.2014 - 8 A 1236/12 -, juris Rn. 17 ff.; a. A. VG Sigmaringen, Urt. v. 21.04.2017 - A 3 K 3159/16 -, juris Rn. 20 unter Verweis auf OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 22.12.2016 - OVG 3 S 106.16 -, juris zu § 36 AufenthG).

Zwar ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen. Von diesem Grundsatz ist jedoch eine Ausnahme zu machen, wenn - wie hier - nach dem materiellen Recht ein früherer Zeitpunkt entscheidend ist. Die Maßgeblichkeit eines früheren Beurteilungszeitpunktes folgt zwar nicht bereits aus dem Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG (1.), ergibt sich allerdings aus einer unionsrechtlich geprägten teleologischen und historischen Auslegung der Norm (2.).

1. Dem Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG kann nicht entnommen werden, auf welchen Zeitpunkt hinsichtlich der Frage der Minderjährigkeit des Stammberechtigten abzustellen ist. Lediglich § 26 Abs. 2 AsylG benennt im umgekehrten Fall, in dem minderjährige Kinder zu ihren stammberechtigten Eltern zuziehen, ausdrücklich den Zeitpunkt der Asylantragstellung.

2. Unionsrechtlich geprägte teleologische Erwägungen (a) und eine historische Betrachtung (b) sprechen dafür, dass - ungeachtet des insoweit offenen Wortlautes - auch beim "Elternschutz" des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG der Zeitpunkt der Asylantragstellung maßgeblich ist. […]

Tragende Erwägung und zentraler Zweck der RL 2011/95/EU ist mithin in zusammenfassender Würdigung die Wahrung des Familienverbandes. Diesem Ziel wird nur dann effektiv Rechnung getragen, wenn der Familienverband durchgängig aufrechterhalten wird. Diesen in Art. 23 RL 2011/95/EU zum Ausdruck kommenden unionsrechtlichen Vorgaben wird nur dann genügt, wenn für die relevante Frage der Minderjährigkeit nicht nur bei § 26 Abs. 2 AsylG, sondern auch beim "Elternschutz" des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG auf den früheren Zeitpunkt der Asylantragstellung und nicht denjenigen der mündlichen Verhandlung abgestellt wird.

Das Unionsrecht gibt einen einheitlichen Schutz des Familienverbandes vor, womit ein gespaltenes Schutzniveau abhängig davon, ob Eltern zu ihren Kindern ziehen oder umgekehrt, nicht zu vereinbaren wäre. Es wäre widersprüchlich, beim Familienflüchtlingsschutz für Eltern, die zu ihren Kindern ziehen (§ 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG), andere Maßstäbe anzulegen als im umgekehrten Fall, in dem Kinder den Flüchtlingsschutz von den stammberechtigten Eltern (§ 26 Abs. 2 AsylG) ableiten. Denn in beiden Fällen geht es um die Wahrung des im Fluchtstaat (neu) bestehenden Familienverbandes (Art. 23 Abs. 1 RL 2011/95/EU) und die Integration der nahen Angehörigen eines Stammberechtigten. Die beiden Schutztatbestände in § 26 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG basieren auf derselben unionsrechtlichen Grundlage und unterscheiden sich lediglich hinsichtlich der Person des zuziehenden Familienmitglieds.

Es wäre gleichfalls mit Blick auf das einheitliche Schutzziel des Art. 23 RL 2011/95/EU nicht nachvollziehbar, minderjährige Stammberechtigte, zu denen ein Elternteil zuziehen will (§ 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG), schlechter zu stellen als solche, zu denen ein Geschwisterkind zuziehen will (§ 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG). […]

b) Den Gesetzesmaterialien kann nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber bei Einführung des § 26 Abs. 3 AsylG zwar den schutzberechtigten Personenkreis erweitern, ihm allerdings - entgegen dem unionsrechtlichen Schutzzweck - ein verringertes Schutzniveau zusprechen wollte. Vielmehr ist auch unter Berücksichtigung der Historie davon auszugehen, dass der Gesetzgeber mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz lediglich der unionsrechtlich gebotenen Erweiterung des geschützten Personenkreises Rechnung tragen und hinsichtlich des maßgeblichen Beurteilungszeitpunktes in Absatz 2 und 3 des § 26 AsylG nicht differenzieren wollte. [...]