1. Flüchtlingsanerkennung für eine Afghanin wegen Zwangsehe.
2. Subsidiärer Schutz für ihren neuen Partner, der sowohl von ihrer Familie, als auch von der Familie ihres Mannes verfolgt wird.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der Klägerin zu 2. steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund einer Verfolgung wegen des Geschlechts zu. Das Gericht ist überzeugt, dass die Klägerin zu 2. ihre Heimat zum einen aufgrund begründeter Furcht vor einer Zwangsheirat verlassen hat und dass sie im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit hiervon weiterhin bedroht ist bzw. Repressionen seitens ihrer Familie ausgesetzt sein wird.
In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist allgemein anerkannt, dass in Afghanistan die Gefahr einer Zwangsverheiratung, die dort als solche weit verbreitet ist, für eine Frau den Flüchtlingsstatus begründen kann (vgl. etwa VG Gelsenkirchen, U. v. 07.08.2014 - 5a K 2573/13.A - juris m.w.N.). Dieser Rechtsprechung schließt sich die Einzelrichterin unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen an.
Die generell menschenrechtswidrige Situation von Frauen in Afghanistan ist unter Zugrundelegung der erreichbaren Erkenntnismittel offensichtlich. Zwar stärken inzwischen Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zunehmend die Rechte der Frauen. Allerdings wird nahezu einhellig berichtet, dass dies für die meisten Betroffenen kaum Auswirkungen auf ihre Lebenswirklichkeit hat. Frauen werden nach wie vor in vielfältiger Hinsicht diskriminiert. So führt etwa der Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016 zu der geschlechtsspezifischen Verfolgung aus, dass sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt weit verbreitet seien. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen fänden zu über 90 % innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord. Staatliche Akteure aller drei Gewalten seien häufig nicht in der Lage - oder auf Grund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt - Frauenrechte zu schützen (Lagebericht, S. 13 f.). In einer Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 24.05.2016 zu Afghanistan (Besondere Gefährdung von Frauen) heißt es, Frauen und Mädchen, die wegen Missbrauch oder Androhung von Zwangsheirat von zu Hause fliehen, würden wegen oft vage definierter oder sogar undefinierter "Verbrechen an der Moral" oder des "Weglaufens von zu Hause" bezichtigt (sog. "Zina"-Vergehen). Frauen in dieser Situation würden verurteilt und in Gefängnishaft genommen. Eine von zu Hause geflohene Frau müsse in Afghanistan damit rechnen, inhaftiert zu werden. Wenn ihre Familie sie finden würde, würden Familienmitglieder sie töten oder religiöse Gruppierungen würden die Familie zwingen, sie zu steinigen. Es sei nicht illegal, von zu Hause wegzulaufen, aber Frauen, die dies täten, würden inhaftiert in der Annahme, sie würden eine außereheliche Beziehung beginnen und sie seien "moralisch korrupt" (SFH-Länderanalyse vom 24.05.2016, Seite 4). Gleiches folgt aus einem Bericht des UK Home Office aus Februar 2016 (Länderinformationen und Richtlinien für britische Asylbehörden zu geschlechterbasierter Gewalt gegen Frauen, engl., verfügbar auf ecoi.net).
Darüber hinaus trifft Frauen mit Hochschulbildung, liberaler familiärer Prägung und europäischer Prägung im Falle ihrer Rückkehr verstärkt das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, da sie in der traditionellen männergeprägten afghanischen Gesellschaft beim gegenwärtigen Wiedererstarken der Taliban und anderer Gruppierungen, die islamistisch geprägt sind, provokant wirken und erhöht Gefahr laufen, bei einer beruflichen Tätigkeit den Gruppen mit spezifischen Gefährdungsprofilen anzugehören (so bereits: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update zur aktuellen Sicherheitslage vom 03.89.2012; S. 14 f. sowie Update vom 23.08.2011, Seite 14; siehe auch VG München, Urteil vom 23.12.2009 - M 23 K 09.50039 – juris). [...]
Hat die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts eine bereits vor ihrer Ausreise erfolgte konkrete Bedrohung glaubhaft gemacht, kommt ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL zugute. Dabei hat das Gericht berücksichtigt, dass Klägerin zu 2. zum Zeitpunkt ihrer Zwangsheirat im Iran gelebt hat. Denn die Familie des Cousins und mithin Ehemannes der Klägerin zu 2. lebte in Afghanistan und hat die Einreise nach Afghanistan gefordert. Stichhaltige Gründe für die Annahme, dass sich die von der Klägerin glaubhaft dargelegten verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei ihrer Rückkehr nicht erneut realisieren werden, ergeben sich weder aus dem Vortrag der Klägerin noch sind solche sonst ersichtlich. Im Gegenteil: Angesichts der dargestellten Auskunftslage ist davon auszugehen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr zusätzlich Repressionen wegen des Umstandes drohen, dass sie von zuhause weglaufen ist ("Zina-Vergehen") ist. [...]
2. Dem Kläger zu 1. steht im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) ein Anspruch auf Zuerkennung von subsidiärem Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu. [...]
Gemessen hieran bestehen stichhaltige Gründe dafür, dass dem Kläger für den Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgesetzt sein wird, weil er auf Grund einer Blutfehde mit dem Tod bedroht ist. Denn der Kläger hat sich in die verheiratete Klägerin zu 2. verliebt. Die Klägerin zu 2. sei im Jahr 2015 mit ihrem Cousin verheiratet worden. Sie habe circa ein Jahr später den Kläger zu 1. kennen gelernt und sich in diesen verliebt. Die Familie der Klägerin zu 2. habe die eingegangene Beziehung zu dem Kläger zu 1. als Ehrverletzung eingeordnet und die Klägerin zu 2. getreten sowie geschlagen. Nach circa einem Jahr Freundschaft sei der Kläger zu 1. von drei Brüdern der Klägerin zu 2. angegriffen worden. Er sei geschlagen und mit einem Messer angegriffen worden. Der Kläger sei er mit dem Messer am linken Unterarm verletzt worden. Die Brüder der Klägerin zu 2. haben zu dem Kläger zu 1. gesagt: "Wenn du nochmal hinter ... her bist, werden wir deinen Kopf abschneiden und hier hinlegen". Die Kläger haben sich daraufhin gemeinsam entschlossen, zu fliehen. Die Angaben des Klägers decken sich dabei mit den Informationen, die das Gericht aus Erkenntnismitteln gewinnen konnte. Nach den Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7. Juni 2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde) kann Auslöser einer Blutfehde eine ungelöste Streitigkeit sein. Wenn eine Familie Rache üben wolle, würde sie nach einer Gelegenheit dafür suchen. Blutfehden sind Konflikte zwischen sich bekämpfenden Familien, Stämmen und bewaffneten Gruppen und werden oftmals als Reaktion auf vermeintliche Verletzungen der Ehre von Frauen verübt (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Informationen zur Praxis der Blutrache (Tötung des Vaters bzw. der jüngeren Geschwister des (vermeintlichen) Täters; Blutrache auch ohne Austausch von Intimitäten zwischen zwei Minderjährigen, die sich regelmäßig getroffen haben); 2) Fälle von Blutrache bzw. Ehrenmorden in der Provinz Baglan [a-8418] vom 11. Juni 2013), wobei eine vor- bzw. außereheliche Beziehung zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau eine ernste Verletzung der Familienehre und insbesondere der Ehre der Familie der Frau darstelle. Dabei genüge zur Annahme der Ehrverletzung eine rein freundschaftliche Beziehung. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser eine Haftstrafe verbüßt habe (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zu Blutrache [a8797-1] vom 25. August 2014). Dem Kläger zu 1. drohe daher nicht nur von der Kernfamilie der Klägerin zu 2., sondern auch von der Familie ihres Mannes Blutrache.
Die Islamische Republik Afghanistan ist erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung respektive dem ernsthaften Schaden durch nichtstaatliche Akteure zu bieten. Von einem solchen Schutz könnte man ausgehen, wenn der Staat geeignete Schritte eingeleitet hätte, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Kläger Zugang zu diesem Schutz hätte (vgl. Art. 7 Abs. 2 QRL). Nach der Auskunftslage sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt. Eine Schutzfähigkeit des Staates vor Übergriffen Dritter ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers nicht gegeben. Die größte Bedrohung der Menschenrechte geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Es handelt sich hierbei meist um Anführer von Milizen, die nicht mit staatlichen Befugnissen, aber mit faktischer Macht ausgestattet sind. Die Zentralregierung hat auf viele dieser "Warlords" praktisch keinen Einfluss und kann sie weder kontrollieren noch ihre Taten untersuchen oder verurteilen. Wegen des desolaten Zustands des Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen daher häufig ohne Sanktionen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19.10.2016; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Fähigkeit der Taliban, Personen in Afghanistan aufzuspüren; Schutzfähigkeit des Staates [a-8498-2 (8499)], 14.08.2013, verfügbar auf ecoi.net). Staatliche Gerichte und die Polizei in Afghanistan können wegen der weit verbreiteten Straflosigkeit und Korruption eine Blutrache nicht verhindern oder beenden und seien oft auch nicht willens, dies zu tun. Es sei sogar möglich, dass auch Richter und Polizeiangehörige eine Blutrache als ein legitimes - weil "traditionelles" - Vorgehen betrachten (SFH, Schnellrecherche v. 07.06.2017, a.a.O., S. 6). [...]