VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Beschluss vom 09.01.2018 - 7 L 14897/17.TR - Asylmagazin 7-8/2018, S. 267 ff. - asyl.net: M26157
https://www.asyl.net/rsdb/M26157
Leitsatz:

Keine Umgehung von § 37 AsylG durch verlängerte Ausreisefrist:

1. Für international Schutzberechtigte ist in Bezug auf Ungarn ein Abschiebungsverbot festzustellen, da ihnen dort eine Verletzung von Art. 3 EMRK droht.

2. Der Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsandrohung ist auch bei (fälschlicherweise) nach § 38 AsylG verfügter 30tägiger Ausreisefrist statthaft.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Suspensiveffekt, Dublinverfahren, Ungarn, Rechtsschutzinteresse, Ausreisefrist, Abschiebungsandrohung, subjektives Recht, Fortführung des Verfahrens, internationaler Schutz in EU-Staat, Anerkannte, ausländische Anerkennung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, Art. 3 EMRK, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 34, AsylG § 35, AsylG § 36, AsylG § 37, AsylG § 38
Auszüge:

[...]

a) Obschon die Antragsgegnerin entgegen der zwingenden Vorschrift des § 36 Abs. 1 Asylgesetz - AsylG - statt einer Ausreisefrist von einer Woche eine Ausreisefrist von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Hauptsacheverfahrens (§ 38 Abs. 1 AsylG) gesetzt hat, handelt es sich bei dem Antrag gemäß § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5 S. 1 Var. 1 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1, 36 Abs. 3, 4 AsylG um die statthafte Antragsart.

Hieran vermag das bewusst gesetzwidrige Vorgehen der Antragsgegnerin, infolgedessen der Klage aufschiebende Wirkung zukommt, nichts zu ändern, denn der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG kraft Gesetzes immer vorgesehen und aufgrund dieser Spezialregelung statthaft. Er kann durch willkürliche Gesetzesumgehung der Antragsgegnerin nicht abbedungen werden, da er zum Funktionieren des Regelungsgefüges der §§ 35 bis 37 AsylG unerlässlich ist.

Dies wird daran deutlich, dass das Eilverfahren im Falle der Ablehnung eines Asylantrags wegen der Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Dreh- und Angelpunkt für das weitere Verfahren darstellt und damit eine bedeutende, vom Gesetzgeber deutlich gewollte Beschleunigungsfunktion übernimmt:

Indem eine Stattgabe im Eilverfahren gemäß § 36 Abs. 4 S. 1 AsylG nur erfolgen darf, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids bestehen, wird zunächst sichergestellt, dass eine Aussetzung der Abschiebung nicht bereits erfolgt, wenn überhaupt Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vorliegen, sondern dass gewichtige Gründe den Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nähren müssen (BeckOK AuslR/Pietzsch AsylG § 36 Rn. 36-42, beck-online, m.w.N.). Liegen diese - gegenüber dem Prüfungsmaßstab des § 80 Abs. 5 VwGO gesteigerten - Voraussetzungen vor, ist indes ein Hauptsacheverfahren nicht mehr erforderlich, da der Bescheid gemäß § 37 Abs. 1 S. 1 AsylG ipso jure unwirksam wird und das Verfahren vom Bundesamt fortzuführen ist (§ 37 Abs. 1 S. 2 AsylG). Wird der Eilantrag hingegen abgelehnt, verbleibt es zwar bei der Notwendigkeit eines Hauptsacheverfahrens, doch zumindest wird die Möglichkeit einer zeitnahen Abschiebung eröffnet.

Diese dem Eilverfahren zukommende, verfahrensbestimmende und -beschleunigende Funktion ist nach Sinn und Zweck der auf die Straffung des Asylverfahrens angelegten §§ 35 bis 37 AsylG unverzichtbar, denn allein hierdurch wird ein sachgerechter und zügiger Verfahrensablauf gewährleistet. Einerseits wird vermieden, dass Asylbegehrende, welche im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach erfolglos bleiben werden, dennoch nicht abgeschoben werden können. Andererseits wird hierdurch sichergestellt, dass die Asylverfahren, in denen der Asylantrag mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Unrecht als unzulässig abgelehnt wurde, bzw. fehlerhaft die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes verneint wurden, schleunigst einem nationalen Verfahren zugeführt werden. Die hohe Bedeutung, welche der Gesetzgeber dieser Beschleunigung zugemessen hat, wird daran deutlich, dass er in Kauf nimmt, dass nach § 37 Abs. 1 AsylG die Unwirksamkeit des Bescheids eintritt, obwohl nicht feststeht, dass er rechtswidrig ist, sondern lediglich ernsthafte Zweifel vorliegen. Dass das vorstehend geschilderte Verfahren in allen Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG eröffnet sein soll, wird im Übrigen daran erkennbar, dass der Gesetzgeber der Antragsgegnerin in § 36 Abs. 1 AsylG kein Ermessen eingeräumt hat. Vielmehr ist nach § 36 Abs. 1 AsylG zwingend eine Ausreisefrist von einer Woche anzuordnen, wenn der Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt wird.

Dies zugrunde gelegt ist. die Statthaftigkeit des Eilantrages - trotz der aufschiebenden Wirkung der Klage - vor dem Hintergrund des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz - GG - zwingend zu bejahen. Nur so kann vermieden werden, dass die Antragsgegnerin sämtliche der in den §§ 35 bis 37 AsylG niedergelegten gesetzgeberischen Entscheidungen aus vermeintlich für notwendig erachteten Opportunitätsgründen umgeht und sich damit ihrer verfassungsrechtlich verankerten Bindung an Recht und Gesetz entzieht.

Bestätigt wird diese Notwendigkeit durch den im Meistbegünstigungsgrundsatz zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken. Das prozessrechtliche Prinzip des Meistbegünstigungsgrundsatzes betrifft grundsätzlich die Fälle "inkorrekter" Entscheidungen. Hat das Gericht eine der Form nach unrichtige Entscheidung getroffen, so steht den Beteiligten ein Wahlrecht zu, ob sie das eigentlich zulässige oder das der ergangenen Entscheidung entsprechende Rechtsmittel einlegen. Darüber hinaus kommt das Meistbegünstigungsprinzip aber auch zur Anwendung, wenn sonstige Fehler oder Unklarheiten der anzufechtenden Entscheidung für den Rechtsmittelführer zu einer Unsicherheit über das einzulegende Rechtsmittel führen können (BVerwG, Urteil vom 13. April 2011 - 9 C 2.10 -, Rn. 11, juris, m.w.N.). Hintergrund ist die Überlegung, dass Fehler des Gerichts nicht zu Lasten der Parteien gehen dürfen; insbesondere darf ihnen nicht durch eine falsche Behandlung der Sache durch ein Gericht der Instanzenzug abgeschnitten werden (BVerwG, Urteil vom 05. September 1991 - 3 C 26.89 -, BVerwGE 89, 27-30, Rn. 19).

Dieser Gedanke ist auf den vorliegenden Fall zu übertragen, da sich der Fehler der Antragsgegnerin andernfalls in unbilliger Weise zu Lasten der Antragsteller auswirken würde. Auch wenn keine fehlerhafte gerichtliche Entscheidung ergangen ist, so hätte das Vorgehen der Antragsgegnerin doch - wenn man die Statthaftigkeit des Eilantrages wegen der faktisch bestehenden aufschiebenden Wirkung der Klage ablehnen würde - zur Folge, dass den Antragstellern die Möglichkeit genommen würde, eine schnelle Entscheidung über ihren weiteren Verbleib zu erlangen. Zudem würde den Antragstellern die Aussicht auf den Eintritt der positiven Rechtsfolge des § 37 Abs. 1 AsylG im Falle einer Stattgabe im Eilverfahren abgeschnitten. Gründe, aufgrund derer die Antragsteller diese ungünstigen Folgen, welche allein auf das gesetzesfremde Vorgehen der Antragsgegnerin zurückzuführen sind, tragen müssten, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Auch das Verwaltungsverfahren unterliegt dem Gebot des fairen Verfahrens als Ausdruck effektiven Rechtsschutzes, sodass die oben geschilderte Situation der Meistbegünstigung hier ebenfalls einschlägig ist.

Auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen des demnach statthaften Eilantrages liegen vor.

Insbesondere können die Antragsteller sich vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen auf ein berechtigtes Rechtsschutzinteresse berufen. Obschon eine Stattgabe im Eilverfahren ihre Rechtsstellung mit Blick auf die der Klage ohnehin zukommende aufschiebende Wirkung zunächst nicht erweitert, folgt ein berechtigtes Interesse an der Gewährung von Eilrechtsschutz aus § 37 Abs. 1 AsylG. Diese Norm vermittelt ein schutzwürdiges Rechtsschutzinteresse der Antragsteller, da sie deren materiellen Rechtskreis durch die Anordnung der Unwirksamkeit des streitgegenständlichen Bescheids im Falle einer Stattgabe im Eilverfahren unmittelbar erweitert. Hierdurch gehen die Wirkungen des § 37 Abs. 1 AsylG über die einer bloßen, keine subjektiv öffentlichen Rechte vermittelnden Verfahrensvorschrift hinaus. Würde man den Eilantrag in Fällen der vorliegenden Art als unstatthaft ablehnen, nähme man den Antragsteller die Möglichkeit des Eintritts dieser positiven Rechtsfolge.

Ungeachtet dessen haben die Antragsteller ohnehin ein berechtigtes Interesse daran, dass entsprechend der - eindeutigen - gesetzlichen Systematik schleunigst eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Bescheids über die Unzulässigkeit ihres Antrags und die Abschiebungsandrohung erfolgt. Andernfalls würde es sich zum Nachteil der Antragsteller auswirken, wenn Umstände, die zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Eilantrages ein Abschiebungsverbot begründen und daher zu einer Stattgabe im Eilverfahren und dem Eintritt der Rechtsfolge des § 37 Abs. 1 AsylG führen würden, bis zum Zeitpunkt der Hauptsacheentscheidung wegfallen.

Es wäre mit Art. 20 Abs. 3 und 19 Abs. 4 GG unvereinbar, wenn die Antragsgegnerin es dergestalt in der Hand hätte, durch die offensichtlich rechtswidrige Wahl einer Frist nach § 38 Abs. 1 AsylG die gesetzliche Systematik auszuhebeln und dem Betroffenen hierdurch das dort verbürgte Verfahren abzuschneiden.

b) Der dergestalt zulässige Antrag ist auch begründet, denn es bestehen ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes (§ 36 Abs. 4 S. 1 AsylG).

aa) Zwar begegnet die Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1. des Bescheids vom 23. November 2017) keinen rechtlichen Bedenken. Zur Begründung wird gemäß §§ 77 Abs. 2 AsylG i.V.m. 117 Abs. 5 VwGO auf die Begründung des streitbefangenen Bescheids verwiesen.

bb) Jedoch bestehen ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, denn es sprechen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass bezüglich Ungarn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK – vorliegt. [...]