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VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 28.03.2018 - unbekannt - asyl.net: M26281
https://www.asyl.net/rsdb/M26281
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für "Tanzknaben" aus Afghanistan:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für einen mittlerweile volljährig gewordenen Afghanen, der als Minderjähriger als "Tanzknabe" bzw. für "Bacha Bazi" missbraucht wurde. Eine interne Fluchtalternative ist auf Grund der psychischen Erkrankung nicht gegeben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, soziale Gruppe, Bacha Bazi, Tanzjunge, Flüchtlingsanerkennung, Jungen, Männer, interne Fluchtalternative, interner Schutz, psychische Erkrankung, Existenzminimum, minderjährig, Volljährigkeit,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 4, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]
Dies zugrunde gelegt hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG. [...]

Anders als das Bundesamt meint, stehen die teilweise unvollständigen Schilderungen des Klägers vor dem Bundesamt hinsichtlich der Asylantragstellung in Ungarn der Glaubhaftigkeit seines Vorbringens nicht entgegen. Schließlich hat das erkennende Gericht in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass es den Kläger psychisch sehr belastet, über die Vorfälle zu sprechen und er daher versucht, dieser Situation schnell zu entkommen. Dies erscheint angesichts der gravierenden Erlebnisse nicht verwunderlich. Dabei ist auch das jugendliche Alter des Klägers zu berücksichtigen. In der Gesamtschau war der vg. Aspekt aufgrund des in jeder Hinsicht glaubwürdigen Eindrucks, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat, jedenfalls nicht geeignet, die in Afghanistan erlittene Vorverfolgung in Frage zu stellen, zumal es sich hierbei nicht um einen Aspekt in Bezug auf die Verfolgungsgeschichte und erst recht nicht um einen insoweit zentralen Aspekt handelt.

Die Aussagen des Klägers stehen auch mit der Erkenntnismittellage im Einklang. "Bacha Bazi", das sog. Knabenspiel ist eine jahrhundertalte Gepflogenheit in Afghanistan. Dabei halten sich einflussreiche Männer Jungen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren, die als Frauen verkleidet an Festen tanzen müssen. Dabei kommt es häufig auch zu sexuellem Missbrauch. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein und bleibt zumeist straffrei. Wenn überhaupt einmal gegen "Bacha Bazi" vorgegangen wird, dann werden meistens die minderjährigen Opfer verhaftet und beschuldigt, außerehelichen Geschlechtsverkehr geplant zu haben (vgl. etwa Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Bacha Bazi, 11.3.2013; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update 30.9.2016, S. 19; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan, 19.10.2016, S. 13).

Die glaubhaft geschilderten körperlichen Misshandlungen und die Vergewaltigung stellen Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG dar.

3. Darüber hinaus knüpft die Verfolgung des Klägers auch an den Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an. Der Kläger wird als Zugehöriger zu der sozialen Gruppe der minderjährigen Jungen verfolgt, was eine geschlechtsspezifische Verfolgung darstellt (vgl. VG Augsburg, U.v. 24.5.2012 - Au 6 K 11.30379 - juris). Traditionsgemäß kommen in Afghanistan für "Bacha Bazi" nur Jungen in Betracht (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Bacha Bazi, 11.3.2013). Es handelt sich anders als eine einmalige Vergewaltigung, deren Opfer grundsätzlich Männer und Frauen jeglichen Alters werden können, um eine - auch von der afghanischen Regierung - stillschweigend geduldete, jahrhundertelang gewachsene Gepflogenheit in Afghanistan, die ausschließlich minderjährige Jungen betrifft, so dass es weit über kriminelles Unrecht hinausgeht.

4. Angesichts der Vorverfolgung des Klägers kommt diesem die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zugute. [...]

Die Beweiserleichterung wird im Falle des Klägers nicht durch den Umstand entkräftet, dass der Kläger durch Zeitablauf möglicherweise aus der Zielgruppe der "Tanzjungen" fällt. Das Gericht ist nach dem Eindruck des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass auch derzeit noch bei der Rückkehr des gerade erst volljährig gewordenen Klägers in seine Heimat aufgrund seines immer noch sehr jugendlichen Aussehens und seiner psychischen Labilität die Gefahr für den Kläger besteht, erneut sexuell missbraucht zu werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Missbrauch von Kindern im ganzen Land verbreitet und in den letzten Jahren angestiegen ist. "Bacha Bazi" wird von der afghanischen Regierung geduldet und nicht selten auch von der Polizei oder Angehörigen der ANDSF praktiziert (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Bacha Bazi, 11.3.2013; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update 30.9.2016, S.19). [...]

5. Für den Kläger besteht schließlich auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG. [...]

Zum einen spricht einiges dafür, dass eine begründete Furcht vor der geltend gemachten Verfolgung außerhalb der Herkunftsprovinz der Klägers, Parwan, besteht. Da der Kläger seine Heimat vorverfolgt verlassen hat, kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zugute, wonach die Verfolgung ein ernster Hinweis darauf ist, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. der Betreffende tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Stichhaltige Gründe dafür, dass der Kläger bei Rückkehr nicht von Verfolgung erneut bedroht wären, bestehen nicht. Zudem ist die Gepflogenheit des "Bacha Bazi" mittlerweile in ganz Afghanistan verbreitet, so dass der Kläger auch andernorts in Afghanistan die Gefahr der Verfolgung zu befürchten hätte (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Bacha Bazi, 11.3.2013; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update 30.9.2016, S. 19). [...]