VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 07.05.2018 - 34 L 73.18 A - asyl.net: M26309
https://www.asyl.net/rsdb/M26309
Leitsatz:

Eine "Erstentscheidung" im Sinne von Art. 10 Dublin III-Verordnung liegt nur im Falle einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz vor. Diese Voraussetzungen sind auch noch nach der Entscheidung des Bundesamtes während eines laufenden Klageverfahrens erfüllt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Familienangehörige, Ablehnungsbescheid, Familieneinheit,
Normen: VO 604/2013 Art. 10, EMRK Art. 8, GR-Charta Art. 7,
Auszüge:

[...]
Hat ein Antragsteller in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, so ist gemäß Art. 10 Dublin III-Verordnung dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Antragstellerin zu 1. hat in der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 7. Februar 2018 sowie mit Schreiben der Prozessbevollmächtigten vom 14. Februar 2018 (Bl. 162 der Asyrakte), der Ehemann der Antragstellerin zu 1. und Vater der Antragsteller zu 2. bis 4. mit schriftlicher Erklärung vom 3. Mai 2018 schriftlich den Wunsch geäußert, dass das Asylverfahren der Antragsteller in Deutschland durchgeführt werden soll.

Bei dem … handelt es sich auch um einen Familienangehörigen i.S.d. Art. 10 und Art. 2 Buchst. b) Dublin III-Verordnung: Nach den Erkenntnissen im Eilverfahren bestehen keine Zweifel daran, dass … tatsächlich der Ehemann der Antragstellerin zu 1. bzw. der Vater der Antragsteller zu 2. bis 4. ist. Dieser hatte bereits auf dem Fragebogen vom 3. Februar 2016 (Bl. 19 f. der Asylakte zum Az. … - und damit lange vor der Einleitung des Dublin-Verfahrens durch die Antragsgegnerin - die damals noch im Westjordanland lebenden Antragsteller als seine Familienangehörigen benannt. Auch die Antragsteller haben sich seit Beginn des Verfahrens auf den Ehemann bzw. Vater bezogen (vgl. Bl. 34 der Asylakte zum Az. … Auf der UNRWA-Registrierungskarte (Bl. 87 der Asylakte der Antragsteller) sind sowohl die Antragsteller als auch der Ehemann bzw. Vater genannt. Weiterhin sind die Antragsteller und der Ehemann bzw. Vater unter derselben Adresse wohnhaft (vgl. Bl. 138 f. der Asylakte zum Az. …).

Schließlich war bei dem Ehemann bzw. Vater der Antragsteller auch noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen. Die eine Zuständigkeit nach Art. 10 Dublin III-Verordnung ausschließende "Erstentscheidung in der Sache" liegt nur im Falle einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz vor (so im Ergebnis auch Bruns, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, AsylVfG § 27a Rn. 38). Dies ergibt sich aus Sinn und Zweck der Dublin III-Verordnung. Bei deren Anwendung soll ausweislich ihres 14. Erwägungsgrundes im Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein. Diesem Ziel wird Art. 10 der Verordnung nur gerecht, wenn eine gemeinsame Zuständigkeit für alle Familienangehörigen während des gesamten behördlichen und gerichtlichen Asylverfahrens angenommen wird. Denn andernfalls droht den Familienangehörigen die Trennung bis zum (möglicherweise divergierenden) Abschluss eines oder gar beider Asylverfahren in unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Eine Familienzusammenführung wäre erst nach positivem Abschluss des - durchschnittlich 14,4 Monate zuzüglich eines eventuellen Gerichtsverfahrens dauernden, vgl. aida, Country Report: Spain, 2017 update, Stand: März 2018, abrufbar unter www.asylumineurope.org/reports/country/spain, S. 12 - spanischen Verfahrens der Antragsteller in Spanien oder des deutschen Verfahrens des Ehemannes bzw. Vaters der Antragsteller in Deutschland oder im Falle des negativen Abschlusses beider Verfahren im Westjordanland möglich. Da Art. 10 Dublin III-Verordnung die gemeinsame und kohärente Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge (vgl. 15. Erwägungsgrund der Verordnung) bezweckt, kann dieser im Lichte der Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRC nur so verstanden werden, dass die Zuständigkeit des Aufenthaltsstaats des Familienangehörigen lediglich dann endet, wenn dessen Verfahren bereits bestandskräftig abgeschlossen ist, dieser also keinen potentiellen Anspruch mehr auf internationalen Schutz hat.

Dass es maßgeblich auf die Bestands- bzw. Rechtskraft der Erstentscheidung in der Sache ankommt, ergibt sich auch aus dem systematischen Zusammenhang der Art. 9 und 10 Dublin III-Verordnung. Art. 10 ergänzt Art. 9 der Verordnung, welcher die Zuständigkeit für Familienangehörige, die Begünstigte internationalen Schutzes sind, regelt. Gemäß Art. 9 Dublin III-Verordnung ist der Mitgliedstaat, in welchem ein Begünstigter internationalen Schutzes aufenthaltsberechtigt ist, für den Antrag von dessen Familienangehörigen zuständig. Nach Art. 10 der Verordnung soll die Zuständigkeit auch bestehen, solange über dessen Antrag noch keine Erstentscheidung ergangen ist. Würde die Zuständigkeit bereits vor dem Abschluss des Klageverfahrens enden, so würde eine von der Verordnung nach dem oben Gesagten nicht beabsichtigte Zuständigkeitslücke für den Zeitraum zwischen der behördlichen und der gerichtlichen Entscheidung entstehen.

Schließlich steht die genannte Auslegung nicht dem Wortlaut des Art. 10 Dublin III-Verordnung entgegen. Der Begriff "Erstentscheidung" ist nicht als die zeitlich erste Entscheidung in der Sache, sondern als Gegenstück zu der Entscheidung über einen Folge- bzw. Zweitantrag zu verstehen. [...]