VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 28.06.2018 - 20 K 6284/16.A - asyl.net: M26326
https://www.asyl.net/rsdb/M26326
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für wehrpflichtigen Mann aus Aleppo:

1. Männern im wehrdienstfähigen Alter droht bei Rückkehr nach Syrien Verfolgung durch den syrischen Staat in Anknüpfung an eine (unterstellte) regimekritische Haltung (im Anschluss an VGH Bayern, Urteil vom 12.12.2016 - 21 B 16.30372 - asyl.net: M24739, Asylmagazin 3/2017).

2. Die Herkunft aus Aleppo stellt ein weiteres gefahrerhöhendes Moment dar, welches ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft begründet. 

3. Unabhängig von individuell gefahrerhöhenden Umständen, droht Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, sich im westlichen Ausland aufgehalten und einen Asylantrag gestellt haben, Verfolgung wegen zugeschriebener politischer Überzeugung (in ausführlicher Auseinandersetzung mit entgegenstehender obergerichtlicher Rechtsprechung des OVG NRW, Urteil vom 21.02.2017 - 14 A 2316/16.A - asyl.net: M24789 und weiteren OVG-Entscheidungen).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aleppo, Syrien, Wehrdienstentziehung, gefahrerhöhende Umstände, Militärdienst, politische Verfolgung, Wehrpflicht, Verfolgungsgrund, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, subsidiärer Schutz, illegale Ausreise, Flüchtlingseigenschaft, Verknüpfung, Bestrafung, unverhältnismäßige Strafverfolgung, Flüchtlingsanerkennung, illegaler Aufenthalt, Asylantrag, illegale Ausreise, Asylantragstellung, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, 2011/95/EU Art. 9 Abs. 2 Bst. 3, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]
Gemessen an den vorstehenden Kriterien liegen die Voraussetzungen des § 3 AsylG hinsichtlich des Klägers vor. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Furcht des Klägers vor einer Verfolgung im Falle einer Rückkehr unter Berücksichtigung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Syrien wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung, des Aufenthalts im westlichen Ausland, wegen der Entziehung vom Wehrdienst und wegen der Herkunft aus Aleppo begründet ist.

Das Gericht hält nach erneuter Überprüfung an seiner bisherigen Auffassung fest, dass aus Deutschland rückkehrende syrische Asylbewerber unabhängig von einer Vorverfolgung nach ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in Anknüpfung an eine jedenfalls vermutete politische Gesinnung durch das syrische Regime bereits wegen einer illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im westlichen Ausland zu befürchten haben (vgl. VG Köln, Urteile vom 23.06.2016 - 20 K 1599/16.A -, vom 25.08.2016 – 20 K 6664/15.A - und vom 24.01.2017 - 20 K 8414/15.A - alle unter Juris). [...]

Im achten Jahr der bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien und nach einer anhaltenden Eskalation der Gewaltspirale, die inzwischen zu hunderttausenden Toten (die Schätzungen schwanken zwischen 109.000 und 500.000), über 5 Millionen Flüchtlingen im Ausland, über 6 Millionen Binnenvertriebenen, wechselnd zwischen 500.000 bzw. 1 Million Menschen im Belagerungszustand, über 80.000 Verschwundenen sowie Millionen Verletzten und hunderttausenden Gefangenen geführt hat (vgl. UNHCR, Bericht von November 2017: International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrien Arab Republic, Update V (im Folgenden: UNHCR, Bericht von November 2017); Human Rights Watch, Jahresbericht vom 78.09.2018; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Syrien; Stand 05.01.2017 (im Folgenden: BFA, LIB Syrien vom 05.01.2017)) sind zur Überzeugung der Kammer keinerlei belastbaren Anhaltspunkte ersichtlich, die eine andere Beurteilung der vorstehenden Gefährdungslage rechtfertigen könnten. Die Situation hat sich im Gegenteil weiter erheblich verschärft. Insbesondere hat sich an den Rahmenbedingungen des Konflikts und der Brutalität und Willkür, mit der das Regime gegen tatsächliche und vermeintliche Gegner vorgeht, nichts geändert. Das andauernde uferlose Verfolgungsinteresse des syrischen Regimes besteht unvermindert fort, die syrischen Gefängnisse sind überfüllt. Das ganze Land ist zu einer "Folterkammer geworden, einem Ort grausamen Horrors und absoluter Ungerechtigkeit". Die übergroße Mehrheit der Inhaftierten sind gewöhnliche Zivilisten, die in dem Verdacht einer regimefeindlichen Haltung stehen. Jeder, der unter dem Verdacht steht, regimekritisch zu sein, unterliegt dem Risiko willkürlicher Inhaftierung, Folter und anderer Misshandlung, des Verschwindenlassens und des Todes während der Haft. Dabei sind die Gründe für den Verdacht einer regimekritischen Haltung oft extrem fadenscheinig. Unter Folter erzwungene falsche Anschuldigungen Dritter können ebenso der Grund für Festnahmen sein wie Anschuldigungen aus persönlicher Rache. Verwandtschaftliche, nachbarschaftliche oder kollegiale Beziehungen zu Personen, die in den Verdacht einer regimekritischen Haltung geraten, können ursächlich für eine Inhaftierung sein oder nur die bloße Herkunft aus einem Gebiet, das als Oppositionshochburg gilt oder galt (vgl. Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, Zusammenfassung der Spitzengespräche über die Menschenrechtssituation in der Syrischen Arabischen Republik, Bericht vom 15.06.2017 - A/HRC/35/15; UNHCR, Bericht von November 2017; amnesty international, "Human Slaughterhouse - Mass hangings and extermination at Saydnaya Prison, Syria", Index: MDE 24/5415/2017, und "It breaks the human - Torture, Disease and Death in Syria's Prisons", Index: MDE 24/4508/2016).

Auch die Auskunftslage konkret zu den Folgen von illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längeren Aufenthalts im westlichen Ausland hat sich im Wesentlichen nicht geändert. Dies spiegelt sich in den Erkenntnismitteln, die seit der Änderung der Entscheidungspraxis der Beklagten im März 2016 erstellt wurden, wider. Nahezu alle Auskünfte und Berichte, einschließlich der wiederholten Herkunftsländerinformationen des UNHCR (vgl. UNHCR, Berichte von November 2015, Februar 2017, vom 30.05.2017 und zuletzt von November 2017 (unter Bezugnahme u.a. auf den Bericht von Februar 2017); BFA, LIB Syrien vom 05.01.2017; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 21.03.2017, Syrien: Rückkehr (im Folgenden: SFH vom 21.03.2017 - Rückkehr); Immigration and Refugee Board of Canada, Bericht vom 19.01.2016, Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points, including failed refugee claimants, people who exited the country illegally, and people who have not completed military service; factors affecting treatment, including age, ethnicity and religion, www.refworld.org/docid/56d7fc034.html (im Folgenden: IBC, Bericht vom 19.01.2016), bestätigen ausdrücklich, dass Rückkehrer im Falle einer Abschiebung nach Syrien unverändert eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte in Anknüpfung an eine jedenfalls vermutete oppositionelle Haltung zu erwarten haben und davon auszugehen ist, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form von menschenrechtswidriger Behandlung auslöst. [...]

Auch der Danish Immigration Service kommt in seinem Bericht vom August 2017 nach umfangreichen Recherchen im Rahmen einer 10-tägigen Reise nach Beirut und Amman zu dem Ergebnis, dass Syrern, die das Land illegal verlassen haben, im Falle einer Rückkehr Verhaftung und ernsthafte Strafen drohen. Dies wurde so von nahezu allen Quellen berichtet, namentlich dem UNHCR, Human Rights Watch, dem Vertreter der Heinrich-Böll-Stiftung und einem in Damaskus ansässigen Rechtsanwalt, wobei es nach Human Rights Watch Berichte über Festnahmen und anschließendem Verschwindenlassen von Personen nach ihrer Rückkehr an Kontrollpunkten des Regimes gegeben hat. Bereits die illegale Ausreise wird dabei als ein Umstand angesehen, der den Verdacht der Behörden erregt. Nur eine befragte Quelle gab an, keiner würde nur wegen illegalen Verlassens des Landes bestraft werden, sofern er sich vor der Einreise nach Syrien offizielle Dokumente bei einer syrischen Botschaft besorgt. Sollte er allerdings solche offiziellen Dokumente nicht haben, riskiere er eine Verhaftung im Falle einer Rückkehr (vgl. Danish Refugee Council/Danish Immigration Service, Bericht von August 2017: Syria - Recruitment Practices in Government-controlled Areas and in Areas under Opposition Control, Involvement of Public Servants and Civilians in the Armed Conflict and Issues Related to Exiting Syria (im Folgenden: DRC/DIS, Bericht von August 2017)). [...]

Was schließlich das weit verbreitete Argument der Massenflucht anbelangt und die daran anknüpfenden Erwägungen über eine bestehende oder nicht bestehende "Realitätsblindheit" des syrischen Regimes, so beteiligt sich das Gericht an derartigen Bewertungen nicht. Zu konstatieren ist lediglich, dass sich die gegenwärtige Realität in der Bundesrepublik einerseits und in Syrien andererseits offenkundig fundamental voneinander unterscheidet. Maßstab für die in Asylverfahren zugrunde zu legende Realität in Syrien kann jedenfalls nur die Situation sein, wie sie sich aus den hierzu zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln, allen voran den Herkunftsländerinformationen des UNHCR, ergibt. Diese Erkenntnismittel sind zwar auch einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. Es können aber nicht eigene Plausibilitätsüberlegungen gänzlich an die Stelle übereinstimmender Erkenntnisse aus den vorhandenen Herkunftsländerberichten und weiteren fachkundigen Auskunftsquellen gesetzt werden. Bei der zu treffenden Prognoseentscheidung hinsichtlich der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Rückkehrverfolgung bei Einreise ist zudem nach § 77 Abs. 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. in dem Zeitpunkt, in dem die Entscheidung fällt, abzustellen. Es ist daher zu fragen, ob in diesem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt in dem zu entscheidenden Einzelfall im Falle einer hypothetischen Rückkehr über einen offiziellen Grenzkontrollpunkt mit flüchtlingsrelevanten Maßnahmen zu rechnen ist. Auf Überlegungen, ob in ferner, nicht absehbarer Zukunft mit einer massenweisen gleichzeitigen Rückkehr der in Deutschland und im weiteren westlichen Ausland befindlichen Syrer zu rechnen ist, kommt es daher ebenso wenig an wie auf den Umstand, dass Syrern gegenwärtig mindestens subsidiärer Schutz gewährt wird und eine Abschiebung daher - wohl noch auf lange Sicht - nicht in Betracht kommt. Ein solches Vorgehen stünde mit § 77 Abs. 1 AsylG nicht in Einklang und würde den grundsätzlichen Vorrang des Flüchtlingsschutzes nach der Genfer Flüchtlingskonvention untergraben.

Die nach der obigen Auswertung aller verfügbaren Auskunftsquellen jedem Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Behandlung durch das syrische Regime knüpft jedenfalls auch an eine vermeintliche politische Überzeugung bzw. den Verdacht einer regimefeindlichen Überzeugung und damit an mindestens eines der Merkmale der Genfer Flüchtlingskonvention an (vgl. UNHCR, Berichte von November 2015, Februar 2017 und erneut von November 2017; BFA, LIB Syrien vom 05.01.2017; SFH vom 21.03.2017 - Rückkehr; IBC, Bericht vom 19.01.2016; DRC/DIS, Bericht von August 2017).

In diese Bewertung sind - wie oben ausgeführt - die Aktivitäten der syrischen Geheimdienste auf deutschem Boden im Umfeld syrischer Flüchtlinge einzustellen und die Präsenz aller syrischen Geheimdienste an den offiziellen Einreisestellen, die hier wie dort der Gegnerausforschung dient. Es lässt sich auch nicht ansatzweise erahnen, welchem anderen Erkenntnisinteresse - außer demjenigen an den tatsächlichen oder vermuteten politischen Überzeugungen des Betroffenen selbst und seines weiteren Familien- und Bekanntenkreises sowie an politischen Strukturen und Netzwerken im Flüchtlingsumfeld und der Exilszene im weitesten Sinne - die syrischen Geheimdienste bei den Befragungen (einschließlich der Überprüfung der Telekommunikation auf Mobilgeräten), Inhaftierungen und Anwendung von Folter bei Einreise sonst noch folgen könnten. Eine abweichende Einordnung könnte allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, fern liegt. Fernliegend ist zur Überzeugung des Gerichts auch die Annahme, durch die umfangreichen Aktivitäten syrischer Geheimdienste im Ausland bestünde im Falle einer späteren Einreise des Einzelnen keine Abschöpfungsinteresse mehr. Dies gilt schon mit Blick auf die auf syrischem Boden angewandten "besonderen Befragungsmethoden" (vgl. so noch: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - und Urteil vom 02.05.2017 - A 11 S 562/17 - beide unter Juris).

In die Bewertung ist zusätzlich einzustellen, dass die Beklagte im Rahmen der Anhörungen gemäß § 25 AsylG Hinweise auf Völkerstraftaten sammelt. Allen Asylbewerbern aus Syrien werden folgende Fragen gestellt: "Waren Sie selbst Augenzeuge, Opfer oder Täter von begangenem Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit; Übergriffen (Folter, Vergewaltigungen oder andere Misshandlungen) von kämpfenden Einheiten auf die Zivilbevölkerung, Hinrichtungen bzw. Massengräbern oder Einsätzen von Chemiewaffen? Wann, wo und wie wurden diese Taten begangen und gibt es Personen, die das bestätigen können? Können Sie Täter benennen, wo sind diese aufhältig und woher kennen Sie die Namen?" Derartige Fragen sind keineswegs Standard für alle Asylsuchenden, vielmehr werden grundsätzlich nur syrische und irakische Staatsangehörige entsprechend befragt. Auf der Grundlage dieser Befragungen wurden im Jahr 2014 bereits 231 Hinweise an die Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (ZBKV) weitergeleitet, im Jahr 2015 waren es 1.560 Hinweise, gefolgt von 799 Hinweisen im Jahr 2016 und für die Zeit von Januar bis April 2017 schon 153 Hinweise. Ziel dieser Weiterleitung ist es in Absprache mit dem Bundeskriminalamt, eine größtmögliche Breite der Erkenntnisgewinnung zu erlangen. Im Rahmen des Strukturverfahrens Syrien werden auch Beweise für mögliche Straftaten des syrischen Staatspräsidenten oder ihm nahestehender Personen erhoben mit Blick auf ein eventuelles zukünftiges Verfahren vor dem Internationalen Strafgericht oder eine Strafverfolgung in Deutschland (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Tom Koenigs, Luise Amtsberg, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 18/12533 – 30.05.2017).

Bislang werden im Rahmen der Anhörungen vor dem Bundesamt im Vergleich zu der Gesamtzahl der Flüchtlinge einerseits und dem Ausmaß der begangenen Völkerstrafverbrechen andererseits nur relativ wenige Hinweise durch Flüchtlinge gegeben. Dies beruht zum Teil auf unzureichender Information der Flüchtlinge, zum Teil auf Angst vor Repressalien gegenüber Familienangehörigen in Syrien und zum Teil auf Misstrauen gegenüber Polizei- und Verwaltungsbeamten. Mit Blick auf die hohe Anzahl syrischer Flüchtlinge gerade in Schweden und Deutschland sind beide Länder deshalb nachdrücklich aufgefordert worden, deutlich mehr Anstrengungen zur Aufklärung und Anklage von in Syrien begangenen Völkerstrafverbrechen zu unternehmen (vgl. Human Rights Watch, Bericht von Oktober 2017 - "These are the Crimes we are fleeing" - Justice for Syria in Swedish and German Courts). [...]

Der überwiegend gegenläufigen obergerichtlichen Rechtsprechung zu dieser Frage (vgl. OVG NRW, Urteil vom 21.02.2017 - 14 A 2316/16. A -; Sächsisches OVG, Urteil vom 07.02.2018 - 5 A 1245/17.A -; OVG Bremen, Urteil vom 24.01.2018 - 2 LB 194/17 -; OVG Hamburg, Urteil vom 11.01.2018 - 1 Bf 81/17.A -; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.112017 - OVG 3 8 12.17 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.08.2017 - A 11 S 710/17; OVG Lüneburg, Urteil vom 27.06.2017 - 2 LB 91/17 -; OVG Saarlouis, Urteil vom 02.02.2017 - 2 A 515/16 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -; Bayerischer VGH, Urteil vom 12.12.2016 - 21 B 16.30371 -; Schleswig Holsteinisches OVG, Urteil vom 23.11.2016 - 12 A 222/16 - alle unter Juris) vermag sich das Gericht aus den vorstehenden Gründen unverändert nicht anzuschließen, zumal diese zwar im Ergebnis einheitlich ist, sich in den maßgeblichen Begründungssträngen aber zum Teil erheblich unterscheidet. Die beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer Verfolgungshandlung bei Rückkehr-Befragung mit der konkreten Gefahr einer Verhaftung und/oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung - wird nur durch das OVG Münster und das OVG Hamburg ausdrücklich verneint, im Übrigen teils bejaht, regelmäßig aber offen gelassen. Die oben zitierte Entscheidung des EGMR vom 14.02.2017 wird dabei außer Acht gelassen. Überwiegend wird - auch hier wieder mit sehr unterschiedlichen Argumenten - darauf abgestellt, dass jedenfalls eine Verknüpfung einer etwa zu erwartenden Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund fehle. Dieses Vorgehen ist schon aus Rechtsgründen problematisch, weil die Schwere einer drohenden Verfolgungshandlung auch Aussagekraft hinsichtlich einer bestehenden objektiven Gerichtetheit haben kann.

Soweit schließlich in der von der hier vertretenen Auffassung abweichenden obergerichtlichen Rechtsprechung Befürchtungen eines gewissermaßen "automatischen Asyls" durchscheinen, ist darauf hinzuweisen, dass "die Anerkennung als politische Verfolgung und damit als Asylgrund auch nicht durch die zu erwartenden Auswirkungen auf die Zahl der Asylberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland beeinflusst werden (kann)" (vgl. so schon: BVerwG, Urteil vom 26.10. 1971 - 1 C 30.68 – Juris).

Nichts anderes gilt im Anwendungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention und der darauf inhaltlich beruhenden Definition der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Qualifikationsrichtlinie bzw. des § 3 AsylG. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist gerade vor dem historischen Hintergrund der bis dahin weltweit größten Flüchtlingskatastrophe entstanden. […]

Der Kläger hat des Weiteren einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil er im wehrfähigen Alter ist und sich durch seine illegale Ausreise und dem Verbleib im Ausland der Einziehung zum Wehrdienst entzogen hat. […]

Soweit in einer Situation wie der in Syrien die Wahrscheinlichkeit einer hinreichend unmittelbaren Beteiligung an den in § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG genannten Handlungen mit dem Argument verneint wird, dass "der Kläger als ungedienter Wehrpflichtiger überhaupt keiner Einheit zugeteilt sei, sondern seine militärische Ausbildung erst durchlaufen müsse" (vgl. OVG NRW, Urteil vom 04.05.2017 - 14 A 2023/16.A) so entspricht dies schon nicht der bekannten Auskunftslage (s.o.). Denn danach ist es häufig so, dass Rekruten gänzlich ohne oder nur mit kurzer Ausbildung direkt an die Front geschickt werden. Im Übrigen bürdet dieser Ansatz den Betroffenen, vielfach gerade noch ungediente Wehrpflichtige, eine unmöglich zu erfüllende Darlegungslast auf und definiert sie so gleichsam aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift heraus. Ganz offen geschieht dies, wenn unter Bezugnahme auf ein Deutsches Wörterbuch aus den 50-iger Jahren Wehrdienstentziehung durch Flucht dem Begriff der Wehrdienstverweigerung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG in nicht mehr nachvollziehbarer Weise völlig entzogen wird. […]

Der Kläger hat schließlich einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch wegen seiner Herkunft aus Aleppo, wo er bis zu seiner Ausreise im Juli 2015 gelebt hat. […]

a) Die Herkunft des Klägers aus Aleppo stellt zunächst im Rahmen der allgemeinen Rückkehrgefährdung und der Gefährdung wegen Wehrdienstentziehung (s.o. unter Ziffern 1 und 2) ein weiteres erheblich gefahrerhöhendes Moment dar. Personen, die aus Gebieten stammen, die - u.U. auch nur vorübergehend - unter der Kontrolle der bewaffneten Opposition waren, wird generell misstraut. Es liegt daher auf der Hand, dass das syrische Regime an dem Kläger auch vor diesem Hintergrund ein erhebliches Informationsinteresse hat und er infolge der ihm zugeschriebenen Regimegegnerschaft einer nochmals erhöhten Gefährdung unterliegt (vgl. UNHCR, Berichte von November 2017, von Februar 2017 und vom 30.05.2017; SFH, Bericht vom 23.03.2017 - Rückkehr, IBC, Bericht vom 19.01.2016).

b) Die Auseinandersetzungen und Machtkämpfe in und um Aleppo sowie auch der massive Einfluss insbesondere der Al Nusra-Front bzw. des IS bestanden zudem schon im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers im Juli 2015, so dass - in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsauffassung und Bewertung der Lage in Syrien durch die Beklagte - von einer Vorverfolgung des Klägers auszugehen ist. Es ist daher der herabgestufte Maßstab des Art. 4 Abs. 4 EU-Qualifikations-RL anzuwenden ist. Eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen müsste also im Falle einer Rückkehr ausgeschlossen sein. Davon kann ersichtlich keine Rede sein. […]