VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 18.06.2018 - 2 V 73/18 - asyl.net: M26433
https://www.asyl.net/rsdb/M26433
Leitsatz:

Die Vorschriften des Jugendhilferechts (SGB VIII) zur örtlichen Zuständigkeit verdrängen Vorschriften nach dem AsylG und § 3 VwVfG nach Abschluss des Asylverfahrens. Örtlich zuständig ist dann gem. § 88a Abs. 1 SGB VIII die Ausländerbehörde am Ort der vorläufigen Inobhutnahme.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Asylantrag, Unwirksamkeit, Inobhutnahme, Duldung, örtliche Zuständigkeit, Jugendhilfe, SGB VIII, lex specialis, Asylverfahren,
Normen: SGB VIII § 88a Abs. 1, AsylG § 48 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

a. Insbesondere ist die Antragsgegnerin die zuständige Behörde für die Erteilung einer Duldung an den Antragsteller. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 lit. a) BremVwVfG, der mit den entsprechenden Regelungen in den anderen Landesverwaltungsverfahrensgesetzen und im Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes übereinstimmt, ist die Behörde örtlich zuständig, in deren Bezirk die Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Ein Ausländer kann nur dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen, wo er sich mit behördlicher Billigung ausländerrechtlich aufhalten darf. Ist der Aufenthalt eines Ausländers räumlich beschränkt, hat der Ausländer dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt (OVG Hamburg, Beschl. v. 17.08.2012 - 5 Bs 178/12 -, juris Rn. 13; VG Bremen, Beschl. v. 26.07.2017 - 2 V 432/17 -). [...]

An der Zuständigkeit der Antragsgegnerin ändert auch die an das Verwaltungsgericht Bremen verwiesene Klage auf Aufhebung des Asylbescheids und Fortsetzung des Asylverfahrens vom Februar 2018 (Az.: 2 K 668/18 und 2 V 669/18) nichts. Diese Verfahren hat der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigten eingeleitet, welcher von seiner Amtsvormündin bevollmächtigt wurde. Damit kommt zwar eine nachträgliche Genehmigung des Asylantrags vom Juni 2017 in Betracht. Dies hätte allerdings keine räumliche Beschränkung des Aufenthalts des Antragstellers auf den Bezirk der Ausländerbehörde, in dem die Aufnahmeeinrichtung ... liegt, zur Folge. Denn die sich aus dem Asylrecht ergebende Aufenthaltsbeschränkung nach §§ 55 Abs. 1 Satz 1, 56 Abs. 1, 59a Abs. 2 Satz 1 AsylG wird vorliegend von den jugendhilferechtlichen Vorschriften des SGB VIII verdrängt. Nimmt das Jugendamt einen unbegleiteten minderjährigen Asylantragsteller in Obhut, ist dieser verpflichtet, in einer Einrichtung der Jugendhilfe zu wohnen. Die zuvor mit der Asylantragstellung begründete Verpflichtung zum Aufenthalt im Bezirk der Ausländerbehörde, in dem die für die Aufnahme des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt, entfällt (vgl. VGH Bayern, Beschl. v. 23.09.2014 - 12 CE 14.1833 - 12 C 14.1865 -, juris Rn. 16; VG Augsburg, Beschl. v. 04.01.2018 - Au 6 S 17.1805 -, juris Rn. 26; VG Schwerin, Urt. v. 08.04.2016 - 15 A 262/16 As SN -, juris Rn. 31 m.w.N.; vgl. auch VG Bremen, Beschl. v. 30.04.0218 - 2 V 3641/17 -). Dies ergibt sich zum einen aus dem Sinn und Zweck der Zuständigkeitsvorschriften des SGB VIII. Für die Fälle der (vorläufigen) Inobhutnahme von ausländischen Kindern und Jugendlichen enthält das SGB VIII besondere örtliche Zuständigkeiten. Gemäß § 88a Abs. 1 SGB VIII ist für die vorläufige Inobhutnahme eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält. Gemäß § 42b Abs. 1 SGB VIII benennt das Bundesverwaltungsamt innerhalb von zwei Werktagen nach Anmeldung eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen zur Verteilung durch die zuständige Landesstelle das zu dessen Aufnahme verpflichtete Land. Maßgebend dafür ist die Aufnahmequote nach § 42c SGB VIII, wobei gemäß § 42b Abs. 2 SGB VIII vorrangig dasjenige Land benannt werden soll, in dessen Bereich das Jugendamt liegt, das das Kind oder den Jugendlichen nach § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen hat. Hat dieses Land die Aufnahmequote nach § 42c SGB VIII bereits erfüllt, soll das nächstgelegene Land benannt werden. Das SGB VIII sieht damit im Fall unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher ein besonderes Verteilungsverfahren vor, welches sich aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit dieser Personengruppe am Wohl des Minderjährigen orientiert (vgl. BT Drs. 18/5921, S. 17). Dies geht auch aus den übrigen Verteilungsregelungen des § 42b Abs. 3 bis 5 SGB VIII hervor. Diesem Schutzzweck des jugendhilferechtlichen Verteilungsverfahrens würde es zuwiderlaufen, wenn der Aufenthalt des unbegleiteten ausländischen Minderjährigen nach §§ 55 Abs. 1 Satz 1, 56 Abs. 1, 59a Abs. 2 Satz 1 AsylG räumlich beschränkt wäre, da diese räumliche Beschränkung auf einer Verteilungsentscheidung nach den §§ 44 ff. AsylG beruhen würde, welche das Wohl des Minderjährigen nicht besonders berücksichtigt. Der Vorrang des Kinder- und Jugendhilferechts im asyl- und ausländerrechtlichem Verfahren entspricht zum anderen dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT Drs. 18/5921, S. 17) und geht auch aus Bestimmungen des AsylG hervor. Gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ist der Asylantrag direkt beim Bundesamt zu stellen, wenn der Ausländer sich in einer Jugendhilfeeinrichtung befindet, und nicht gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 AsylG bei der Außenstelle des Bundesamts, die der für die Aufnahme· des Ausländers zuständigen Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist. Die Fälle der (vorläufigen) Inobhutnahme nach dem AsylG lassen sich zudem unter § 48 Nr. 1 AsylG fassen, wonach die Verpflichtung in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen endet, wenn der Ausländer verpflichtet ist, an einem anderen Ort oder in einer anderen Unterkunft Wohnung zu nehmen. Der Antragsteller ist aufgrund des Beschlusses der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Bremen vom 31.08.2017 vorläufig in Obhut zu nehmen. Er ist daher im jugendhilferechtlichen Verfahren als unbegleiteter ausländischer Jugendlicher anzusehen. Zuständig für die vorläufige Inobhutnahme ist gemäß § 88a Abs. 1 SGB VIII das Amt für Soziale Dienste. Dieser Zuständigkeit folgt die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Erteilung einer Duldung. [...]