VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 12.07.2018 - 9 K 207/17.TR - asyl.net: M26436
https://www.asyl.net/rsdb/M26436
Leitsatz:

Kein Zweitantrag auch bei erfolglos abgeschlossenem Asylverfahren bei systemischen Mängeln:

1. Wegen der systemischen Mängel des griechischen Asylverfahrens jedenfalls in den hier entscheidungserheblichen Jahren 2011 bis 2013 kann die von den griechischen Asylbehörden getroffene Entscheidung über den Asylantrag nicht Grund für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG (Zweitantrag) sein.

2. Die systemischen Mängel bestanden z.B. darin, dass keine Anhörung zu den Asylgründen stattfand, die mit der Entscheidung betraute Person (i.d.R. Mitglied der Polizei) kaum Länderkenntnisse und eine ablehnende Haltung gegenüber Asylsuchenden hatte, ablehnende Entscheidungen nicht begründet wurden und die Rechtsbehelfsbelehrung i.d.R. nicht übersetzt, Rechtsschutz daher praktisch nicht erreichbar war.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Griechenland, Zweitantrag, Unzulässigkeit, systemische Mängel, Asylverfahren, persönliches Gespräch,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 71a Abs. 1 AsylG, AsylG § 26a, AsylG § 71a,
Auszüge:

[…]

Die Voraussetzungen für die Einordnung des Asylantrages des Antragstellers vom 25. Juni 2013 als Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG liegen jedoch nicht vor. § 71a Abs. 1 AsylG verlangt den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat i.S.d. § 26a AsylG und Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG. Griechenland ist zwar als Mitgliedstaat der Europäischen Union grundsätzlich als sicherer Drittstaat anzusehen, § 26a Abs. 2 AsylG, Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG. Damit läge im Hinblick auf die Entscheidung der griechischen Behörden vom 24. September 2015 der erfolglose Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat grundsätzlich vor.

Allerdings ist § 71a AsylG dahingehend auszulegen, dass ein erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat nur vorliegt, wenn das betreffende Asylverfahren gemäß der Definition des sicheren Drittstaates in Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG in Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchgeführt worden ist (vgl. VG München, Urteil vom 26. Oktober 2016 - M 17 K 15.31601 -, juris Rn. 39; VG Aachen, Beschluss vom 4. August 2015 - 8 L 171/15.A -, juris Rn. 9). Denn das Konzept sicherer Drittstaaten beruht auf dem Gedanken, dass in Deutschland keine Schutzwürdigkeit besitzt, wer in einem sicheren Drittstaat Schutz hätte finden können. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich bei der Bestimmung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu sicheren Drittstaaten davon leiten lassen, dass in allen Mitgliedstaaten die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK - gelten und prinzipiell auch angewendet werden (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 -, juris Rn. 157-160). Grundsätzlich eröffnet demzufolge die Regelung des Art. 16 Abs. 2 GG vom Wortlaut keine Möglichkeit, diese verfassungsrechtlich verankerte Feststellung bezogen auf den vom Verfassungsgeber generell als sicher eingestufte Mitgliedstaat der Europäischen Union durch individuelles Vorbringen auszuräumen.

Bei der Anwendung der Regelungen über die sicheren Drittstaaten gilt nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts allerdings ausnahmsweise etwas anderes in fünf in seiner Entscheidung näher bezeichneten Fallkonstellationen aufgrund von besonderen Umständen, die vom Verfassungs- bzw. Gesetzgeber nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung berücksichtigt werden konnten bzw. die von vornherein außerhalb des "Blickfeldes" des Deutschen Verfassungsgesetzgebers lagen und die der Durchführung eines solchen Konzepts von daher gewissermaßen aus sich heraus verfassungsrechtliche Grenzen setzen (vgl. VG Hannover, Beschluss vom 11. Januar 2018 - 11 B 87/18; im Ergebnis wohl ebenso VG Köln, Beschluss vom 19. Februar 2018 - 14 L 4188/17.A, jeweils juris).

Nicht umfasst vom Konzept normativer Vergewisserung über einen Schutz für Flüchtlinge durch den sicheren Drittstaat sind danach unter anderem Ausnahmesituationen, in denen der Drittstaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK greift und dadurch selbst zum "Verfolgerstaat" wird (BVerfG a.a.O. Rn. 189). Eine unmenschliche Behandlung, die einen Verstoß gegen Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 3 EMRK begründet, kann dabei auch in Mängeln bei der Prüfung des Asylantrags liegen sowie in der Gefahr, dass ein Antragsteller in sein Herkunftsland abgeschoben wird, ohne dass ernsthaft geprüft worden ist, ob sein Asylantrag begründet ist, und ohne dass er einen wirksamen Rechtsbehelf einlegen konnte (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - M.S.S. v. Belgium and Greece Rn. 321; vgl. auch EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10, C-411/10, C-493/10 -, juris). Voraussetzung der Einordnung eines Staates als sicherer Drittstaat ist unter dem Gesichtspunkt von Verstößen gegen Art. 3 EMRK damit insbesondere, dass in dem betreffenden Mitgliedstaat keine sog. systemischen Mängel des Asylverfahrens gegeben sind, aufgrund derer der Asylbewerber Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18. Februar 2016 - 1 A 11081/14 -, juris Rn. 23).

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Januar 2011 (30696/09; M.S.S. v. Belgium and Greece) wies das Asylsystem in Griechenland zum Zeitpunkt der damaligen Entscheidung erhebliche strukturelle Mängel auf, weshalb Asylbewerber sehr geringe Chancen hätten, dass ihr Antrag und ihre Beschwerde von den griechischen Behörden ernsthaft geprüft würden. Mangels eines wirksamen Rechtsbehelfs seien sie nicht gegen eine willkürliche Abschiebung in ihr Herkunftsland geschützt (vgl. EGMR, a.a.O., Rn. 125, 187, 300321). Im Hinblick auf die Mängel im griechischen Asylsystem hat auch die Bundesrepublik Deutschland seit dem 19. Januar 2011, zunächst befristet für ein Jahr, keine Überstellungen mehr nach Griechenland nach der Dublin-Verordnung vorgenommen (vgl. VG Hannover, Beschluss vom 11. Januar 2018 - 11 B 87/18, Rn. 13, juris).

Ausweislich der aida-Berichte in den Jahren 2012 bis 2015 war eine sorgfältige Sachprüfung der Asylanträge in Griechenland im Jahr 2013 nach dem alten Verfahrensregime nicht gewährleistet. Für die Prüfung der Asylanträge sei die Polizei zuständig gewesen. Die Polizisten hätten oft nicht über das notwendige Wissen über die Herkunftsländer verfügt und hätten dementsprechend ihrer Aufgabe, die Asylanträge zu prüfen, nicht gerecht werden können. Voreingenommenheit der Polizisten und Willkür seien verbreitet gewesen. In der Praxis seien für die persönlichen Anhörungen oft keine Dolmetscher verfügbar gewesen, so dass Anhörungen mehrmals verschoben worden seien. Es sei von unzureichender Qualität der Übersetzungen berichtet worden. Zudem sei von Fällen berichtet worden, in denen die Übersetzer von den Asylbewerbern Geld für ihre Tätigkeit verlangt hätten. Den Asylbewerbern seien keine detaillierten Gründe für die Ablehnung ihrer Asylanträge mitgeteilt worden. Ein rechtliches Vorgehen gegen die ablehnende Entscheidung sei den Antragstellern dadurch erschwert worden, dass sie über die ihnen zustehenden Rechte nicht in einer ihnen verständlichen Sprache informiert worden seien. Der Mangel an Dolmetschern habe zur Folge gehabt, dass viele Rechtsbehelfe mangels Sprachkenntnissen nicht erhoben werden konnten (vgl. National Country Reports Greece der Asylum Information Database vom 1. Juni 2013, S. 15-23, vom 1. Dezember 2013, S. 18-28, vom 31. Juli 2014, S. 25-37 und vom 27. April.2015, S. 30-43). Auch das U.S. Department of State führt aus, dass Nichtregierungsorganisationen im Hinblick auf das griechische Asylsystem im Jahr 2014 von Problemen hinsichtlich des Rechtsbehelfssystems und von unzureichender Übersetzung, unzureichender rechtlicher Beratung und von Diskriminierung berichtet hätten (Human Rights Report 2014 des U.S. Department of State vom 25. Juni 2015, S. 14; vgl. insgesamt auch VG Hannover, Beschluss vom 11. Januar 2018 - 11 B 87/18, Rn. 14 ff., juris).

Zwar erging eine Entscheidung über den Asylantrag des Klägers im Griechenland erst im Jahr 2015. Das Asylverfahren lief jedoch bereits seit dem Jahre 2010. Bis zur Ausreise des Klägers im Juni 2013 kam es indes - wie dargelegt - zu keinen signifikanten Verbesserungen im Hinblick auf die Bearbeitung von Asylanträgen. Zwar wurde in Griechenland im Jahr 2011 ein neues Gesetz zur Reformierung des Asylsystems verabschiedet. Aufgrund von Verzögerungen bei der Einrichtung der neuen Asylbehörde wurden jedoch vor dem 7. Juni 2013 gestellte Asylanträge noch nach dem alten Verfahrensrecht behandelt (vgl. VG Hannover, a.a.O., Rn.14). Damit fiel auch der am 28. Mai 2010 gestellte Asylantrag des Klägers in Griechenland noch unter das alte Verfahrensrecht. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass das klägerische Asylverfahren in den Jahren 2014 und 2015 grundsätzlich auch nach den verbesserten neuen Verfahrensregelungen des griechischen Asylrechts hätte durchgeführt werden können (was indes die Beklagte nicht näher untersucht hat und daher auch nicht positiv hat feststellen können), nachdem das Asylverfahren des Klägers erst am 24. September 2015 durch einen ablehnenden Bescheid beendet worden war, vermag dies eine anderes Ergebnis nicht zu rechtfertigen. Denn jedenfalls ist davon auszugehen, dass eine ordnungsgemäße Anhörung des Klägers im Hinblick auf dessen Ausreise im Juni 2013 nicht mehr nach den neuen, den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechenden, Verfahrensstandards durchgeführt werden konnte. Daher kann dahingestellt bleiben, ob bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt eine Anhörung stattgefunden hat (was der Kläger bestreitet).

Die Kammer geht daher davon aus, dass in Griechenland zumindest bis zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers systemische Mängel in der Bearbeitung von Asylanträgen vorlagen, so dass im Asylverfahren des Klägers bis zu dessen Ausreise die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht sichergestellt gewesen ist. Anhaltspunkte dafür, dass nach der Ausreise des Klägers eine ordnungsgemäße Anhörung stattgefunden hat, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Damit liegt ein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG nicht vor. [...]