VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 31.07.2018 - 4 A 297/17 MD - asyl.net: M26536
https://www.asyl.net/rsdb/M26536
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für einen Afghanen, der wegen der Ablehnung einer Zwangsheirat von der Familie der Frau bedroht und zuletzt im Iran angegriffen worden war und dem bei einer Rückkehr nach Afghanistan Blutrache droht.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Zwangsehe, junger Mann, subsidiärer Schutz, Blutrache, Sippenhaft,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) ein Anspruch auf Zuerkennung von subsidiärem Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu. […]

Bei der individuellen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz sind alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslands und der Weise, in der sie angewandt werden, sowie die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er einen ernsthaften Schaden erlitten bzw. erleiden könnte (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a und. b QRL). Weiterhin sind zu berücksichtigen die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Ausländers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. c QRL).

Gemessen hieran bestehen stichhaltige Gründe dafür, dass dem Kläger für den Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgesetzt sein wird, weil er auf Grund der Ablehnung einer Zwangsheirat von der Familie der Frau bedroht worden ist. […]

Nach den Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7. Juni 2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde) kann Auslöser einer Blutfehde eine ungelöste Streitigkeit sein. Wenn eine Familie Rache üben wolle, würde sie nach einer Gelegenheit dafür suchen. Blutfehden sind Konflikte zwischen sich bekämpfenden Familien, Stämmen und bewaffneten Gruppen und werden oftmals als Reaktion auf vermeintliche Verletzungen der Ehre von Frauen verübt (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Informationen zur Praxis der Blutrache (Tötung des Vaters bzw. der jüngeren Geschwister des (vermeintlichen) Täters; Blutrache auch ohne Austausch von Intimitäten zwischen zwei Minderjährigen, die sich regelmäßig getroffen haben); 2) Fälle von Blutrache, bzw. Ehrenmorden in der Provinz Baglan [a-8418] vom 11. Juni 2013), wobei die Ablehnung einer Vermählung eine ernste Verletzung der Familienehre und insbesondere der Ehre der Frau darstelle. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser eine Haftstrafe verbüßt habe (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zu Blutrache [a-8797-1] vom 25. August 2014). In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist allgemein anerkannt, dass in Afghanistan die Gefahr einer Zwangsverheiratung, die dort als solche weit verbreitet ist, für eine Frau den Flüchtlingsstatus begründen kann (vgl. etwa VG Gelsenkirchen, U. v. 07.08.2014 - 5a K 2573/13.A - juris m.w.N.). [...]

Staatliche Gerichte und die Polizei in Afghanistan können wegen der weit verbreiteten Straflosigkeit und Korruption eine Blutrache nicht verhindern oder beenden und seien oft auch nicht willens, dies zu tun. Es sei sogar möglich, dass auch Richter und Polizeiangehörige eine Blutrache als ein legitimes - weil "traditionelles" - Vorgehen betrachten (SFH, Schnellrecherche v. 07.06.2017, a.a.O., S. 6).

Dem Kläger stand und steht auch keine zumutbare inländische Schutzalternative (§ 4 Abs. 3 S. 1 AsylG i.V.m. § 3e AsylG) zur Verfügung, um bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einer Bedrohung durch die Familie auszuweichen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger andernorts in Afghanistan vor Nachstellungen sicher ist. [...] Es gibt keine Schutzmechanismen für Männer, denen vorgeworfen wird, die Ehre einer anderen Familie beschmutzt zu haben oder dabei behilflich gewesen zu sein. Selbst wenn er nicht gefunden würde, wird es für einen Mann schwierig, im Versteckten eine Arbeit zu verrichten und seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er wird beständig in Angst leben, entdeckt zu werden (vgl. Auskunft der SFH-Länderanalyse Afghanistan, Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr vom 02.10.2012, S. 6). Sogar in einer Stadt wie Kabul, die in Viertel eingeteilt ist, wo sich die Menschen zumeist untereinander kennen, bleibt eine Verfolgungsgefahr bestehen, da Neuigkeiten über eine Person, die aus einem anderen Landesteil oder dem Ausland zuzieht, potentielle Akteure einer Verfolgung erreichen können (UNHCR, Auskunft an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 30.11.2009, S. 4). [...]