VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 23.08.2018 - M 9 S7 18.52564 - asyl.net: M26587
https://www.asyl.net/rsdb/M26587
Leitsatz:

Verlängerung der Überstellungsfrist durch Kirchenasyl:

1. Asylsuchende sind flüchtig im Sinne der Dublin-Verordnung, wenn sie ihrer Pflicht zur Mitwirkung, sich zum Zweck der Überstellung vor der Kirchentür einzufinden, nicht nachkommen und damit einen angekündigten Überstellungsversuch vereiteln. 

2. Die Auslegung des Begriffs "flüchtig" knüpft daran an, wer den Ablauf der Überstellungsfrist zu vertreten hat.

(Leitsätze der Redaktion, entgegen VGH Bayern, Beschluss vom 16.05.2018 - asyl.net: M26421)

Anmerkung:

Schlagwörter: Dublinverfahren, Kirchenasyl, flüchtig, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, Selbstgestellung, Mitwirkungspflicht,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

15 [...] Der Antragsteller hat sich in Kenntnis seiner andauernden und vollziehbaren Ausreisepflicht seiner Überstellung entzogen, indem er trotz Ankündigung und entsprechender Aufforderung nicht erschienen ist. Flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin-III-VO bedeutet nach dem Sinn und Zweck dieser Regelung, dass der Betreffende seine Überstellung aus von ihm zu vertretenden Gründen vereitelt, verzögert oder erschwert, egal durch welche Handlungen er dies tut (VG Potsdam, B.v. 25.7.2018 - 2 L 364/18.A m.w.N.). Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Überstellungsfristen nach der Dublin-III-VO, an die die jeweilige Zuständigkeit eines Mitgliedsstaates anknüpft, muss bei der Auslegung des Begriffes "flüchtig" berücksichtigt werden, ob die Bundesrepublik Deutschland oder der Antragsteller den Fristablauf zu vertreten haben. Daher genügt für eine Verlängerung der Ausreisefrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin-III-VO, wenn sich der zu überstellende Asylbewerber so verhält, dass er unter Berücksichtigung seiner Rechte und Pflichten erkennbar seine Überstellung behindert (VG Potsdam, a.a.O. m.w.N.).

16 Im vorliegenden Fall wurde der Antragsteller zu einer konkreten Mitwirkungshandlung verpflichtet, die er wohl auf Anraten - nicht zuletzt des Pfarrers - verletzt hat.

17 Der Antragsteller war zu der von ihm verlangten Mitwirkung, sich zum Zwecke der Überstellung nach Italien vor der Kirchentür einzufinden, auch unter Berücksichtigung seiner Rechte und Pflichten nach § 82 Abs. 4 AufenthG, auch verpflichtet. Danach kann zur Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen unter anderem nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen angeordnet werden, dass ein Ausländer bei der zuständigen Behörde persönlich erscheint. Zu den Maßnahmen, die ein persönliches Erscheinen rechtfertigen, gehört die Durchsetzung der Ausreisepflicht und damit die Anordnung, zum Zwecke der Abschiebung zu erscheinen. Die dafür zuständige Behörde ist im Falle einer Abschiebung - wie hier - die Polizei, die ihn zur Durchführung der Überstellung nach Italien am angegebenen Ort abholen wollte. Unter Berücksichtigung der praktischen Abläufe bei Überstellungen sowie unter Berücksichtigung des Sinn und Zwecks der Mitwirkungspflichten in diesem Zusammenhang ist es unerheblich, an welchem Ort der Antragsteller sich einzufinden hatte. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, Erforderlichkeit und Geeignetheit war es angemessen und ist vom Gesetzeszweck der Mitwirkungspflichten eines Ausländers umfasst, wenn nicht das Erscheinen in der Behörde, sondern nur das Bereithalten vor der eigenen Tür verlangt wird. Unerheblich ist auch, dass die Polizei nicht am angeordneten Abholort erschienen ist. Nachdem bereits vorab der Pfarrer mitgeteilt hat, dass der Antragsteller seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommen wird, durften die zuständigen Behörden auf diese Aussage vertrauen und waren nicht verpflichtet, einen offensichtlich vergeblichen Überstellungsversuch am angeordneten Ort zur angeordneten Zeit zu versuchen.

18 Entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten des Antragstellers lag daher ein wirksamer Überstellungsversuch bereits durch die angekündigte Abschiebung vor.

19 Es besteht kein Rechtsgrundsatz, dass ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten durch Untertauchen oder die Verhinderung eines Abschiebungsversuches nicht schon vor der tatsächlichen Abschiebungshandlung erfolgen kann. Dies gilt insbesondere wenn - wie hier – der Pfarrer in einem Fall des Kirchenasyls mit dem Anspruch erhöhter Glaubwürdigkeit als moralische und menschliche Instanz tätig wird. [...]