VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 17.07.2018 - 9 A 36/18 MD - asyl.net: M26642
https://www.asyl.net/rsdb/M26642
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Jordanierin wegen Konversion:

1. Die einer Jordanierin wegen Konversion zum Christentum drohende Annullierung der Ehe sowie die Entziehung des Sorgerechts für die Kinder stellt eine Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar, da es sich hierbei um erhebliche Verletzungen des Rechts auf Familienleben nach Art. 8 EMRK und des Rechts auf Eheschließung aus Art. 12 EMRK handelt.

2. Aufgrund der Vorrangstellung, die der Scharia im jordanischen Rechtssystem zukommt, kann offen bleiben, ob die Verfolgung direkt vom jordanischen Staat oder den Scharia-Gerichten ausgeht, da ersterer zumindest nicht willens ist, Schutz vor entsprechender Verfolgung zu bieten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Jordanien, Konvertiten, Christen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Europäische Menschenrechtskonvention, Annullierung, Sorgerecht, Scharia-Recht, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Der Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin dadurch in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Sie hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits in seinem Herkunftsland verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, er werde erneut von solcher Verfolgung bedroht (vgl. Art. 4 Abs. 4 QRL).

Unter Berücksichtigung des individuellen Vortags der Klägerin zu ihren Fluchtgründen und unter Würdigung der aktuellen Erkenntnislage ist das Gericht davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer (erzwungenen) Rückkehr nach Jordanien eine Verfolgung wegen ihrer Religion droht.

Das Gericht dabei von folgenden Erkenntnissen aus:

Die jordanische Verfassung erklärt den Islam zur Staatsreligion. Die Verfassung spricht Muslimen zwar nicht das Recht ab, zu einem anderen Glauben zu konvertieren und sieht dafür auch keine Strafen vor. Die Verfassung und das Gesetz geben jedoch der Scharia den Vorrang, die Muslimen verbietet, zu einer anderen Religion zu konvertieren. [...]

Die Klägerin hat aufgrund ihrer Konversion vom Islam zum Christentum bei einer Rückkehr nach Jordanien mit Verfolgungshandlungen zu rechnen. Ihr droht dort ein erheblicher Eingriff in ihr Recht auf Familien- und Privatleben aus Art. 8 EMRK sowie in ihr Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, aus Art. 12 EMRK. Denn aus den dargestellten Erkenntnismitteln ergibt sich, dass die Klägerin trotz ihres Glaubenswechsels weiterhin unter die Scharia-Gerichtsbarkeit fallen würde und dass aufgrund ihrer Konversion zum Christentum ihre Ehe annulliert sowie das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen werden würde. Für das Gericht bestehen insoweit keine Zweifel daran, dass der von der Klägerin vorgenommene Glaubenswechsel den Scharia-Gerichten infolge einer Abtrünnigkeitsbeschwerde bekannt werden wird. Denn unter Würdigung der Erkenntnislage, wonach ohnehin jedermann eine Konversion bei den Scharia-Gerichten anzeigen kann sowie insbesondere unter Berücksichtigung der Schilderungen der Klägerin im Rahmen ihrer Anhörung vor der Beklagten, wonach ihre Familie sehr konservativ sei und alle anderen außer den Sunniten als Ungläubige ansehe, ist es hinreichend wahrscheinlich, dass die Klägerin bei ihrer Rückkehr nach Jordanien von einer sogenannten Abtrünnigkeitsbeschwerde betroffen sein wird.

Die Annullierung der Ehe sowie die Entziehung des Sorgerechts für die Kinder stellt eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar. [...]

Die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Maßnahmen der Scharia-Gerichte sind nicht lediglich als Beschränkung der genannten Rechte zu qualifizieren. Vielmehr wären im Falle der Verwirklichung dieser Maßnahmen die Rechte der Klägerin aus Art. 8 und 12 EMRK praktisch ausgehöhlt. Angesichts der mit der Rechtsverletzung somit verbundenen Schwere des Eingriffs stellen diese Maßnahmen eine derart erhebliche Verletzung der Rechte der Klägerin dar, dass sie der Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG gleichkommen und ihnen somit flüchtlingsrechtliche Relevanz zukommt.

Diese Art der Verfolgung im Sinne des § 3a AsylG erfolgt aufgrund der Konversion der Klägerin zum Christentum und somit wegen ihre Religionszugehörigkeit gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.

Dem Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft steht nicht entgegen, dass die Eingriffe in Form der Annullierung der Ehe und dem Entzug des Sorgerechts nicht direkt vom jordanischen Staat selbst, sondern von den Scharia-Gerichten ausgehen. Es kann dahinstehen, ob sich der jordanische Staat die Maßnahmen der Scharia-Gerichte zu eigen macht, indem die jordanische Verfassung und die jordanischen Gesetze der Scharia eine Vorrangstellung einräumen. Denn selbst für den Fall der Annahme, dass es sich bei den Maßnahmen der Scharia-Gerichte nicht um staatliche Maßnahmen handelt, sind die Scharia-Gerichte als Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG zu qualifizieren. Danach kann die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens ist, den erforderlichen Schutz vor Verfolgung zu bieten. Unter Berücksichtigung der der Scharia im jordanischen Rechtssystem eingeräumten Vorrangstellung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der jordanische Staat nicht willens ist, Schutz vor der beschriebenen Verfolgung der Klägerin zu bieten. [...]