VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 07.08.2018 - W 1 K 16.31609 - asyl.net: M26648
https://www.asyl.net/rsdb/M26648
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen Offizier der afghanischen Armee, der gegen die Taliban gekämpft und in einem Fernsehinterview offen zum Kampf aufgerufen hat.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Militär, Armee, Offizier, Soldat, interne Fluchtalternative, Berufsgruppe, Taliban, nichtstaatliche Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, exponierte Stellung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. [...]

1. Es steht vorliegend zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger in seinem Heimatland als Soldat bzw. Offizier für den afghanischen Staat tätig gewesen ist. [...] Der Kläger hat darüber hinaus glaubhaft und widerspruchsfrei sowohl vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass er im Rahmen der Ausübung seines Militärdienstes an Kämpfen gegen Einheiten der Taliban beteiligt gewesen ist, dass er dabei auch durch ein Fernsehinterview bekannt wurde, in dem er zum Kampf gegen die Taliban aufgerufen hatte und das den Taliban schließlich sein Heimat- bzw. Wohnort bekannt wurde, weshalb man ihn auch dort gesucht habe, als er auf Heimaturlaub gekommen sei. [...]

Der klägerische Vortrag steht darüber hinaus auch in Einklang mit der Erkenntnislage zu Afghanistan, wonach Regierungs- und Behördenmitarbeiter sowie Angehörige der Sicherheitskräfte in besonderer Weise gefährdet sind, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Dienstes Opfer von Anschlägen durch die Taliban zu werden; dies gilt auch für ehemalige Mitarbeiter (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016, S. 5, 17 und vom 31.05.2018, S. 17 f.; Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update vom 30.9.2016, S. 21 f.; UNHCR Richtlinien vom 19.4.2016, Seite 41 f.).

2. Darüber hinaus wurde der Kläger vorliegend auch wegen eines Verfolgungsgrundes nach § 3b AsylG in seinem Heimatland verfolgt. Dem Kläger wurde nach Überzeugung des Gerichts vorliegend von den ihn verfolgenden Taliban, § 3c Nr. 3 AsylG, eine gegen deren Organisation gerichtete abweichende politische Überzeugung nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG zumindest zugeschrieben, § 3b Abs. 2 AsylG. [...] Der Kläger hat vorliegend zumindest durch die in Ausübung seines soldatischen Dienstes vorgenommene militärische Bekämpfung der Taliban und seines Interviews in dem bekannten afghanischen Fernsehsender Tolo klar und deutlich gegenüber den Taliban zum Ausdruck gebracht, dass er sich als Mitglied der afghanischen Armee gegen deren Ideologie und Vorgehensweise wendet. Gerade deshalb wurde der Kläger durch die Organisation der Taliban verfolgt; dieser Zusammenhang ergibt sich eindeutig und nachvollziehbar aus dem glaubhaften klägerischen Vortrag. Ihm wird demzufolge das Merkmal der gegen die Taliban gerichteten politischen Überzeugung von diesen zumindest zugeschrieben, § 3b AsylG.

3. [...] Das Gericht geht - unter Berücksichtigung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie - davon aus, dass der Kläger im vorliegenden Fall weder in der afghanischen Hauptstadt Kabul noch andernorts in Afghanistan internen Schutz erlangen kann, sondern auch dort Verfolgungsgefahr zu befürchten hätte da er ein erkennbar erhöhtes Risikoprofil für Vergeltungsmaßnahmen aufweist. Der Kläger hat sich durch seine konkrete Tätigkeit in einer Weise gegen die Taliban exponiert, welche diese realistischerweise veranlassen könnte, den Kläger auch in der Hauptstadt Kabul aufzuspüren und ihn für seine früheren Tätigkeiten zu bestrafen. Denn die Organisation der Taliban ist zumindest in der Lage, ihre Gegner auch in der Hauptstadt Kabul grundsätzlich aufzuspüren (Dr. Danesch, Gutachten an das OVG Lüneburg vom 30.4.2013, ACCORD: "Fähigkeit der Taliban, Personen (insbesondere Dolmetscher, die für die US-Armee gearbeitet haben) in ganz Afghanistan aufzuspüren und zu verfolgen" vom 15. Februar 2013), so dass es nur eine Frage der Zeit sein kann, bis dies tatsächlich geschieht. [...]