VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Beschluss vom 29.11.2018 - 5 L 1831/18.A - asyl.net: M26792
https://www.asyl.net/rsdb/M26792
Leitsatz:

Überstellung besonders Schutzbedürftiger nach Italien nur mit individueller Zusicherung:

Vor der Hintergrund der Änderungen in den Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen für Asylsuchende in Italien ist eine Überstellung besonders schutzbedürftiger Personen (hier einer schwangeren Frau) nur zulässig, wenn eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden vorliegt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Italien, besonders schutzbedürftig, Suspensiveffekt, Dublinverfahren, Aufnahmebedingungen, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, individielle Garantieerklärung, Garantieerklärung, Zusicherung, Schwangerschaft, Kleinkind, Kind,
Normen: AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung vom 4. November 2014 (Tarakhel ./. Schweiz) ausgeführt, dass die Anzahl und die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen Italiens die Befürchtung zulassen, dass Asylsuchende im Einzelfall ohne Unterkunft bleiben oder in überfüllten Einrichtungen untergebracht werden, auch wenn die Struktur und die Gesamtsituation des Aufnahmesystems in Italien nicht mit derjenigen Griechenlands vergleichbar sei und keine systemischen Mängel vorlägen. Vor der Abschiebung einer Familie mit Kindern als besonders Schutzbedürftige seien daher individuelle Garantien von den italienischen Behörden einzuholen, dass die Familie bei ihrer Ankunft in Italien in Einrichtungen und unter Bedingungen aufgenommen werde, die dem Alter der Kinder angemessen seien, und dass sie als Familie zusammenbleiben könnten. [...]

Beziehen sich die oben zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu notwendigen Garantieerklärungen ausdrücklich nur auf die - hier noch nicht gegebene - Konstellation einer Abschiebung von Familien mit minderjährigen Kindern, so spricht doch bei summarischer Prüfung Überwiegendes dafür, dass die darin aufgestellten Grundsätze ebenso für die Rückführung von Asylbewerberinnen Geltung beanspruchen, deren Schwangerschaft dem Bundesamt bekannt (geworden) ist und bezüglich derer mithin bereits vorhersehbar ist, dass sie sich in absehbarer Zeit, nämlich mit der zu erwartenden Niederkunft, in einer Situation befinden werden, in der in besonderem Maße auf die Schutzbedürftigkeit der auf ihre Eltern angewiesenen Neugeborenen oder (Kleinst-) Kinder Rücksicht genommen werden muss.

In Anwendung dieser Maßstäbe dürfte die Antragsgegnerin mit Blick auf die Antragstellerin, die ausweislich der vorgelegten ärztlichen Bescheinigung ein Kind erwartet, verpflichtet sein, vor der angeordneten Überstellung eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden einzuholen, damit solche Unterbringungsbedingungen gewährleistet sind, die der Schutzbedürftigkeit der Antragstellerin als werdender Mutter sowie - für die Zeit nach der für den 2. Mai 2019 vorausberechneten Niederkunft - des dann im Säuglingsalter befindlichen Kindes der Antragstellerin ausreichend Rechnung tragen.

Eine individuelle Garantieerklärung ist auch nicht in Ansehung des Umstands entbehrlich, dass Italien - in Reaktion auf die oben genannte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 4. November 2014 (Tarakhel ./. Schweiz) - allgemein zugesichert hat, für eine altersgerechte Unterbringung von im Dublin-Verfahren rücküberführten Familien mit Kindern Sorge zu tragen. In seiner Entscheidung vom 4. Oktober 2016 hat es der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zwar als ausreichend angesehen, dass das italienische Innenministerium mit allgemeinen Erklärungen vom 2. Februar 2015, 15. April 2015 sowie 8. Juni 2015 gegenüber den übrigen Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission zur Kenntnis gebracht hat, dass eine altersgerechte Unterbringung von Familien mit minderjährigen Kindern generell gewährleistet werde und ausreichend Kapazitäten innerhalb der Einrichtungen des sog. "Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifiugati" (kurz: SPRAR) reserviert seien. Der jeweilige nach Italien zu überstellende Asylbewerber müsse hiernach konkrete Umstände vortragen, aus denen hervorgeht, dass die Wahrung der Familieneinheit durch eine gemeinsame Unterbringung nicht gewährleistet ist (vgl. EGMR, Urteil vom 4. Oktober 2016 - Ali u.a. ./. Schweiz, Nr. 30474/14 -, Rn. 15, 34 f., juris). [...]

Denn jedenfalls kann zur Überzeugung der beschließenden Kammer zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr von einer (fortbestehenden) Entbehrlichkeit individueller Garantiezusagen vor einer möglichen Überstellungsentscheidung ausgegangen werden, nachdem nunmehr das so bezeichnete Dekret "Sicurezza e immigrazione" des italienischen Innenministers Matteo Salvini vom 4. Oktober 2014 (Decreto Legge n. 113) die bis dato noch zur Gesetzeskraft erforderliche Zustimmung im italienischen Abgeordnetenhaus gefunden hat (vgl. Spiegel online vom 29. November 2018, "Italien verschärft seine Einwanderungsgesetze drastisch", www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-italien-verschaerft-seine-einwanderungsgesetze-drastisch-a-1241091.html; [...] (jeweils zuletzt abgerufen am 3. Dezember 2018)).

Das vorbezeichnete Dekret, dass am 4. Dezember 2018 als Gesetz in Kraft getreten ist, zielt unter anderem auf eine wesentliche Umgestaltung des bisherigen Systems für die Unterbringung von Asylsuchenden. Anders als bislang sollen nach den gegenwärtig verfügbaren Erkenntnissen nämlich nur noch Personen mit zuerkanntem Schutzstatus sowie unbegleitete Minderjährige Zugang zu den kommunalen SPRAR-Einrichtungen erhalten, während die Unterbringung im Übrigen - also insbesondere solcher Personen, über deren Antrag auf internationalen Schutz noch nicht entschieden worden ist - innerhalb zentraler Auffangeinrichtungen erfolgen soll (vgl. etwa Spiegel online vom 29. November 2018, "Italien verschärft seine Einwanderungsgesetze drastisch", www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-italien-verschaerft-seine-einwanderungsgesetze-drastisch-a-1241091.html; Süddeutsche Zeitung, "Hart, aber fraglich" vom 25. September 2018, www.sueddeutsche.de/politik/italien-hart-aber-fraglich-1.4144303; Zeit online, "Regierung verschärft Asylrecht" vom 24. September 2018, www.zeit.de/politik/ausland/2018-09/italien-migrationspolitik-aslyrecht-verschaerfung-matteo-salvini (jeweils zuletzt abgerufen am 3. Dezember 2018)).

Im Lichte dieser Erkenntnisse kann bei summarischer Prüfung gegenwärtig nicht mehr mit der erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Italien allein aufgrund der im Jahre 2015 allgemein erklärten Zusicherungen seines Innenministeriums in hinreichender Weise dafür Sorge tragen wird, dass Familien mit minderjährigen Kindern oder aber schwangeren Frauen - wie hier der Antragstellerin - ohne weiteres eine der besonderen Schutzbedürftigkeit angemessene Unterbringung nach erfolgter Rückführung zur Verfügung steht. Zwar könnten die geplanten Änderungen in den Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende für sich genommen noch nicht zu dem Schluss gereichen, dass damit die allgemeine Zusage Italiens gegenüber den übrigen Mitgliedstaaten vom 27. März 2015, nämlich eine altersgerechte Unterbringung von Familien mit Kindern zu gewährleisten, generell als hinfällig zu bewerten wäre. Gleichwohl hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine im Anschluss an die Tarakhel-Entscheidung getroffene Einschätzung, die Überstellung besonders schutzbedürftiger Familien nach Italien sei grundsätzlich auch ohne individuell eingeholte Garantiezusagen zulässig, unter anderem maßgeblich darauf gestützt, dass Italien mit seinem zweiten Schreiben vom 15. April 2015 gegenüber der Europäischen Kommission erklärt hatte, dass eine erforderliche Anzahl an Plätzen für schutzbedürftige Familien in den kommunalen SPRAR-Einrichtungen gesichert werde und nicht ohne weiteres angenommen werden könne, es bestünde in Italien schon kein Zugang zu den verfügbaren Kapazitäten (vgl. EGMR, Urteil vom 4. Oktober 2016 - Ali u.a. ./. Schweiz, Nr. 30474/14 -, Rn. 15 und 34, juris).

Vor dem Hintergrund der voraussichtlichen Änderungen in den Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen, wie sie vorstehend mit Blick auf (noch) nicht anerkannte Schutzsuchende anhand aktueller Presseberichte dargelegt worden sind, dürfte diese Annahme des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte durchgreifend erschüttert sein. [...]