VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 12.11.2018 - 1 K 1033/18 Me - asyl.net: M26810
https://www.asyl.net/rsdb/M26810
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Entziehung vom Militärdienst in der syrischen Armee:

Männern im wehrpflichtigen Alter, die sich durch die Ausreise dem Wehrdienst in der syrischen Armee entzogen haben, droht bei Wiedereinreise nach Syrien asylrelevante Verfolgung. Rückkehrern droht bei Sicherheitskontrollen im Rahmen der Einreise aufgrund einer aus der Entziehung vom Wehrdienst gefolgerten - zumindest unterstellten - regimekritischen Gesinnung menschenrechtswidrige Behandlung und Folter.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Upgrade-Klage, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, politische Verfolgung, Wehrdienstverweigerung, Flüchtlingsanerkennung, Verfolgungsgrund,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

2.2. Eine Rückkehrgefährdung besteht jedoch für den Kläger ausgehend von den vorstehenden Ausführungen unter dem Gesichtspunkt gefahrerhöhender Umstände (Risikofaktoren). Ein solcher Risikofaktor ist nach Ansicht der Kammer darin zu erblicken, dass sich der Kläger durch seinen Auslandsaufenthalt dem ihm in seinem Heimatland drohenden Militärdienst entzogen hat. Insoweit sind das System der allgemeinen Wehrpflicht in Syrien sowie die besonderen Umstände, denen sich militärdienstpflichtige Männer und Reservisten und insbesondere all jene, die sich ihren entsprechenden Pflichten entziehen, gegenüber sehen, in den Blick zu nehmen. Hierzu führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 12.12.2016 (Az.: 21 B 16.30372 -, juris) aus:

"Das System der allgemeinen Wehrpflicht beruht auf folgenden Grundsätzen: In Syrien besteht allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren. Männer, die 18 Jahre alt werden, müssen sich zur Generalrekrutierungsstelle begeben (Befragung, Foto, Bluttest). Danach wird ihnen ein Militärdienstbuch ausgehändigt. Bei Beginn des Militärdienstes müssen bei der Generalrekrutierungsstelle die zivilen Ausweise und das Militärdienstbuch abgegeben werden und der Betreffende erhält umgehend den Militärdienstausweis, bevor er zu seiner Einheit entsandt wird. Wenn der Dienst absolviert ist, bekommt man "Entlassungspapiere", die man bei der Generalrekrutierungsstelle abgibt und erhält den zivilen Ausweis und das Militärbuch - versehen mit dem Stempel, dass der Militärdienst geleistet und die Person entlassen wurde (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada - Antworten auf Informationsanfragen v. 13.8.2014, SYR104921.E, S. 5).

Syrische Behörden hätten nach den Ermittlungen der Agence-France-Presse (AFP) das Recht, im Kriegsfall oder im Falle einer Erklärung eines Ausnahmezustands alle männlichen Personen zwischen 18 und 42 Jahren, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, wieder einzuberufen (AFP v. 27.3.2012 "Syria Imposes Travel Ban an Men Under 42: Reports"). Zum Thema Reisebeschränkungen der militärdienstpflichtigen Männer heißt es, dass die Regierung allen Männern zwischen 18 und 42 Jahren offiziell verboten habe, außerhalb des Landes zu reisen (The Christian Science Monitor v. 27.3.2012, "As Syria's War Rages, Assad Bans Military-Age Men From Leaving"). Einschränkend gibt die AFP an, dass diese Männer reisen dürften, aber vorher eine Genehmigung von den Behörden bräuchten und das bisherige Reiseverbot sich nur auf Männer bezogen habe, die ihre zweijährige Wehrpflicht noch nicht abgeleistet hätten (AFP v. 27.3.2012; vgl. zum Ganzen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada - Antworten auf Informationsanfragen v. 13.8.2014, SYR104921.E, S. 6 f).

Nach den Erkenntnissen des Orient-Instituts habe die syrische Regierung im März 2012 beschlossen, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet sei, auch wenn diese bereits den Wehrdienst abgeleistet hätten. Männliche syrische Staatsangehörige sähen sich nach einer Wiedereinreise nach Syrien in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet, wenn sie älter als 18 Jahre seien, der Einberufung in den Wehrdienst gegenüber. Für den Fall, dass der Wehrdienst vor der Ausreise nicht abgeleistet worden sei, könne dies von der syrischen Regierung verlangt werden. Habe die Ausreise unter anderem dem Zweck gedient, sich dem Wehrdienst zu entziehen (z.B. durch Flucht oder Bestechung eines direkten Vorgesetzten), so habe dies eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, aber auch Folter zur Folge. Auch wenn der Wehrdienst bereits verrichtet worden sei, komme es seit Anfang 2011 dazu, dass männliche Staatsangehörige bis zu einem Alter von 42 Jahren erneut eingezogen würden (Deutsches Orient-Institut an das Schleswig-Holsteinische OVG undatiert).

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt aus ("Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee", v. 30.7.2014, S. 3 ff.), Männer hätten, nachdem sie die allgemeine Wehrpflicht absolviert hätten, die Möglichkeit, für die Dauer von fünf Jahren in den aktiven Militärdienst einzutreten. Ansonsten dienten sie während der nächsten 18 Jahre als Reservisten. Es gebe keine Möglichkeit für einen Ersatzdienst. Wehrdienstverweigerung werde gemäß dem Military Penal Code von 1950, der 1973 angepasst worden sei, bestraft. In Art. 68 sei festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft werde, wer sich der Einberufung entziehe. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlasse und sich so der Einberufung entziehe, werde mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Gemäß Art. 101 werde Desertion mit fünf Jahren oder mit fünf bis zehn Jahren Haft bestraft, wenn der Deserteur das Land verlassen habe.

Im Herbst 2014 habe das Regime verschiedene Maßnahmen erlassen, um die Ausreise wehrdienstpflichtiger Männer zu verhindern. Bereits seit dem Ausbruch des Krieges hätten die syrischen Behörden bei der Ausreise von Männern, die zwischen 18 und 42 Jahre alt seien, eine offizielle Beglaubigung des Militärs verlangt, dass sie vom Dienst freigestellt seien. Am 20. Oktober 2014 habe die "General Mobilisation Administration des Department of Defense" allen Männern die Ausreise verboten, die zwischen 1985 und 1991 geboren seien. Mit diesen neuen Restriktionen hätten Männer in den Zwanzigern keine Möglichkeiten mehr, das Land legal zu verlassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien, Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015, S. 4). Nach den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werden in Kriegszeiten Reservisten einberufen. Die Einberufung als Reservist werde wie die Einberufung in den Militärdienst individuell ausgehändigt. Seit Ende 2012 werden immer mehr Reservisten in den Militärdienst einberufen. Tausende sollen 2012 einen Einberufungsbefehl erhalten haben. Präsident Assad sei dringend auf den Einsatz von Reservisten angewiesen. Im März 2012 habe die syrische Regierung deshalb allen Männern zwischen 18 und 42 Jahren verboten, das Land ohne Bewilligung zu verlassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee v. 30.7.2014, S. 6 f.). Seit Herbst 2014 habe das syrische Regime die Mobilisierungsmaßnahmen in die syrische Armee für Rekruten und Reservisten intensiviert. Seither komme es zu großflächiger Mobilisierung von Reservisten, Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bis dahin dem Militärdienst entzogen hätten. Das Office of United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) habe bei von Sicherheitsdiensten aufgegriffenen Männern, die sich dem Militärdienst entzogen hätten, Fälle von Folter dokumentiert. Viele Männer, die im Rahmen der Maßnahmen einberufen würden, erhielten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und würden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015, S. 3 f.).

Die Deutsche Botschaft Beirut (Referat 313) hat am 3. Februar 2016 eine Anfrage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Rückkehrgefährdung dahingehend beantwortet, dass in den vergangenen Wochen mehrere tausend Personen in Syrien zum Wehrdienst eingezogen worden seien. Laut Augenzeugenberichten soll sich die Anzahl junger Männer in den Straßen von Damaskus deutlich verringert haben. Einige hätten darüber berichtet, dass über die Überprüfung an Checkpoints hinaus auch Wohnhäuser aufgesucht worden seien, um Wehrdienstverweigerer zu rekrutieren. Auch habe es verlässliche Berichte darüber gegeben, dass Personen aus dem Gefängnis hinaus zum Wehrdienst eingezogen worden seien.

Nach einem Artikel in "Syria Deeply" (unabhängiges digitales Medienprojekt in New York) vom 16. Dezember 2015 habe es in Damaskus eine erhöhte Anzahl von Verhaftungen an staatlichen Kontrollstellen gegeben; die Behörden würden vermehrt prüfen, ob jemand sich dem Wehrdienst entziehe (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E v. 19.1.2016, S. 8 f.)."

Diese Ausführungen, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Erkenntnisse, macht sich die Kammer zu eigen und ist, dies zugrunde gelegt, davon überzeugt, dass syrischen Flüchtlingen im militärdienstpflichtigen Alter, die in ihren Heimatstaat zurückkehren, bei den Sicherheitskontrollen im Rahmen der Einreise aufgrund einer aus der Entziehung vom Wehrdienst gefolgerten - zumindest unterstellten - Regimefeindlichkeit (oppositionelle Gesinnung), mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit menschenrechtswidrige Behandlung und Folter droht. Dies gilt unter den genannten Umständen sowohl für Wehrdienstpflichtige als auch für Reservisten.

Auch das Thüringer Oberverwaltungsgericht geht davon aus, dass Asylbewerber, die sich durch ihre illegale Ausreise dem Wehrdienst entzogen haben, nach der derzeitigen Erkenntnislage bei einer Rückkehr nicht nur mit einer Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung zu rechnen haben, sondern sie als vermeintliche Oppositionelle vom syrischen Regime angesehen werden und sie daher politisch motivierte Verfolgung zu erwarten haben (vgl. Pressemitteilung Nr. 7/2018 des ThürOVG zu seinen Urteilen vom 15.06.2018, 3 KO 162/18 u.a.).

Aus den benannten Erkenntnisquellen zieht die Kammer den Schluss, dass geflohene Wehrdienstpflichtige und Reservisten, d.h. im Grundsatz all jene männlichen syrischen Flüchtlinge, die zwischen 18 und 42 Jahren alt sind und nicht ausnahmsweise keiner Wehrpflicht unterliegen, eine der benannten Risikogruppen bilden. Es ist davon auszugehen, dass diese im Rahmen der stattfindenden strengen Einreisekontrollen durch die Sicherheitskräfte als "fahnenflüchtig" identifiziert werden. Dies deshalb, weil es zum einen aufgrund des offensichtlichen Alters der betreffenden Person bereits nahe liegt, diese gezielt herauszugreifen und zum anderen, weil die Behörden über die Frage, ob jemand wehrpflichtig oder Reservist ist, informiert sind.

Im Hinblick auf die Erkenntnisse zu den erfolgten Mobilisierungs- bzw. Rekrutierungsmaßnahmen in die syrische Armee in Verbindung mit dem alles übersteigenden Interesse des syrischen Regimes an seiner Machterhaltung und der Durchsetzung dieses Zieles mit allen Mitteln, liegt es auf der Hand, dass den Personen, die sich aufgrund ihrer Flucht der Rekrutierung entzogen haben, regelmäßig eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung gegenüber dem Regime unterstellt werden wird. Denn, so führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (a.a.O., Rdnr. 78) überzeugend weiter aus, "diese Personen haben sich trotz des das Regime in seiner Existenz bedrohenden Krieges nicht für einen Militäreinsatz bereitgehalten und so aus der Sicht der Machthaber ein Verhalten gezeigt, das dessen drängenden militärischen Bedürfnissen zuwiderläuft."

Fest steht unter Zugrundelegung der benannten Erkenntnisquellen aus Sicht der Kammer zudem, dass auf die Identifizierung als (vermeintlicher) Regimegegner mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Anwendung von Folter bzw. Handlungen folgen, die eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Dies entspricht dem beschriebenen Vorgehen und dem beobachteten Verhaltensmuster der syrischen Behörden, um eine (vermeintlich) regimefeindliche Gesinnung zu bestrafen und insbesondere die Betroffenen einzuschüchtern (so auch BayVGH, a.a.O., Rdnr. 79).

Dem Ergebnis steht auch nicht entgegen, sofern der Kläger vor seiner Ausreise weder zum Militärdienst herangezogen wurde, noch einen Einberufungsbefehl vom syrischen Militär erhalten hat. Insoweit dürfte aus Sicht der syrischen Behörden bereits ausreichend sein, dass er sich einer eventuell bevorstehenden Rekrutierung entzogen hat bzw. sich nicht zur Unterstützung im Kampf um den Machterhalt des Assad-Regimes zur Verfügung gehalten hat. Darüber hinaus erscheint es aus Sicht der Kammer durchaus nachvollziehbar, dass die beschriebene Rekrutierung im Hinblick auf die fortgeschrittenen, seit langem andauernden Kämpfe und Auseinandersetzungen unter anderem auch dergestalt von Statten geht, dass Männer im militärdienstfähigen Alter schlicht "von der Straße weg" aufgegriffen und verpflichtet werden. Diesbezüglich führt der Baden-Württembergische Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 02.05.2015 (Az.: A 11 S 562/17 -, juris, Rdnr. 42) aus:

"Seit dem Herbst 2014 werden Reservisten in großem Stile eingezogen (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015 zu Syrien: Arbeitsverweigerung). Die syrische Armee hat nach mehreren Quellen mit örtlichen Generalmobilmachungen begonnen, neue Checkpoints etabliert und Razzien im privaten und öffentlichen Bereich intensiviert, um Reservisten zu finden, die sich bislang dem Dienst entzogen haben. Die Vorgehensweise wird als zunehmend aggressiv beschrieben (vgl. UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 5). In wenigen Monaten wurden zehntausende Personen (zwangs-)rekrutiert und es existieren Berichte, wonach im Frühjahr 2015 Listen mit über 70.000 Namen von Personen, die als Reservisten eingezogen werden sollen, an den Checkpoints der syrischen Armee zirkulierten (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015; SFH, "Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion" vom 23.03.2017, S. 6 f.). [...] Bei der Einberufung von Reservisten, die auf Grundlage des Kriegsrechts innerhalb weniger Tage erfolgen kann, wird offenbar keine Unterscheidung zwischen Anhängern bzw. Unterstützern des Regimes und potentiellen Oppositionellen gemacht (SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee vom 30.07.2014)."

Diese Ausführungen macht sich die Kammer zu eigen, mit der Folge, dass in der Person des 1990 geborenen Klägers, der einen Wehrpass besitzt und dessen Zurückstellung nach Abbruch seines Studiums beendet war, ein beachtlicher Nachfluchtgrund vorliegt. [...]