VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 19.06.2018 - 12 K 2390/16.A - asyl.net: M27022
https://www.asyl.net/rsdb/M27022
Leitsatz:

Clanzugehörigkeit als Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe:

Flüchtlingsanerkennung für eine somalische Frau vom Clan der Gaboye, Subclan Muse Dheri (= niedriger sozialer Status), die verfolgt wurde, weil sie einen Angehörigen des Mehrheitsclans der Hawiye geheiratet hatte.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Clanzugehörigkeit, Gaboye, Muse Dheri, Hawiye, soziale Gruppe, interner Schutz, Mischehe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Die Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan in Somalia stellt sich als Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe dar. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Die Klägerin gehört dem Clan der Gaboye an, und hier dem Subclan der Muse Dheri. Bei den Gaboye handelt es sich um eine sog. berufsständische Gruppe. Berufsständische Gruppen stehen auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie der somalischen Gesellschaft. Sie unterscheiden sich in ethnischer, sprachlicher und kultureller Hinsicht nicht von der Mehrheitsbevölkerung, sind aber traditionell in Berufen tätig, die von den Mehrheitsclans als "unrein" oder "unehrenhaft" angesehen werden. Diese Berufe gelten darüber hinaus als unislamisch. Die Muse Dheri arbeiten traditionell als Korbmacher. Im Gegensatz zu den Mehrheitsclans können die berufsständischen Gruppen ihre Abstammung nicht auf den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Generell ist ein "Makel" im Stammbaum aus Sicht der "noblen" Somali wohl der Hauptgrund für den niedrigen Stellenwert der berufsständischen Gruppen. Mischehen mit Angehörigen berufsständischer Gruppen werden seitens der Mehrheitsclans meist nicht akzeptiert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia vom 12. Januar 2018, S. 92 f.; Schweizerische Eidgenossenschaft, Staatssekretariat für Migration SEM, Focus Somalia, Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017, S. 14, 17 u. 43). Auch die Heirat ohne Einverständnis der Eltern kann Gewalt auslösen (SEM, a.a.O., S. 45).

Minderheitenclans haben in Somalia eine deutlich abgegrenzte Identität und werden als andersartig betrachtet. Angehörige eines Minderheitenclans erleiden in Somalia bereits allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu diesem schwere Diskriminierungen von Folter über Entführungen bis hin zu Tötungen (vgl. LlNHCR, UNHCR Position On Returns To Southern And Central Somalia (Update I), Mai 2016, S. 9 f.; Home Office, United Kingdom, Country Policy and Information Note - Somalia: Majority clans and minority groups in south and central Somalia, Juni 2017, S. 26 f.). Wie bereits oben ausgeführt, werden Mischehen, insbesondere zwischen berufsständischen Gruppen und Mehrheitsclans, nicht akzeptiert. Damit sind Minderheiten von allen Formen der Unterstützung durch Clans oder von sozialem Aufstieg durch Eheschließung ausgeschlossen; ihnen wird häufig der Zugang zur Justiz verweigert. Nach dem Zusammenbruch des somalischen Staates im Jahr 1991 schwächte der wachsende Einfluss der Clans die Stellung von Minderheiten in der Gesellschaft, die darüber hinaus unverhältnismäßig unter den Kampftätigkeiten in ihren Regionen zu leiden hatten (EASO - Informationsbericht über das Herkunftsland - Süd- und Zentralsomalia Länderüberblick - August 2014,S. 51 f.). Minderheiten als kleine und arme Gruppen sind in der Regel nicht in der Lage, ihre Rechte gegen einen Mehrheitsclan zu verteidigen und durchzusetzen (EASO, a.a.O., S. 53). Aufgrund ihrer Stellung im von Clanstrukturen geprägten Gesellschaftssystem Somalias sind die Angehörigen der Minderheitenclans im gesteigerten Maße gefährdet, zwischen die Fronten der bewaffneten Auseinandersetzungen zu geraten (zur gesteigerten Gefahr von Angehörigen der Minderheitenclans vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urt. v. 7. April 2016 - 20 B 14.30101 -, juris Rn. 29 unter Hinweis auf EASO, Somalia Security Situation, S. 60).

Clan und Familie, einbezogen die weitere Familie, sind demzufolge nach wie vor die wichtigsten Faktoren bezüglich der Akzeptanz, der Sicherheit und dem Zugang zu Grundbedürfnissen wie Wohnung und Essen (VG Sigmaringen, Urt. v. 25. Oktober 2017 - A 1 K 2737/17 -, juris; VG Braunschweig, Urt. v. 7. April 2016 - 5 A 75/15 -, juris).

Aus dem Vorgenannten ergibt sich auch, dass die Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan auf angeborenen Merkma1en beruht, da diese durch die familiäre Abstammung bestimmt wird. Ein sozialer Aufstieg ist auf Grund des Verbots von Mischehen nicht möglich.

Die dargelegten Verfolgungshandlungen, die die erforderliche Intensität gemäß § 3a AsylG erreichen, knüpfen auch an die Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe und damit an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal an, § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Die körperlichen Misshandlungen, die die Klägerin durch die Familie ihres Mannes erlitten hat, resultieren aus deren Clanzugehörigkeit. Zwar ist unmittelbarer Anknüpfungspunkt die von der Klägerin mit einem zum Clan der Hawiye gehörenden Mann eingegangene Ehe, jedoch wird diese Beziehung allein aufgrund der Zugehörigkeit der Klägerin zum Clan der Gaboye missbilligt. Gehörte die Klägerin einem Mehrheitsclan an, so wäre die Heirat vom Clan der Hawiye akzeptiert worden und die Klägerin hätte ebenso wenig Misshandlungen erdulden müssen wie ihr Partner (vgl. dazu ebenfalls VG Sigmaringen, Urt. v. 25. Oktober 2017 - A 4 K 2737/17 -, juris; VG Braunschweig a.a.O). Die Zugehörigkeit der Klägerin zu den Gaboye stellt damit einen wesentlichen Faktor für die Verfolgung dar. [...]