VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 27.03.2019 - 1 K 9203/17.TR - asyl.net: M27120
https://www.asyl.net/rsdb/M27120
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz wegen Bedrohung durch organisierte Kriminalität in Russland:

1. Subsidiärer Schutz für Familie aus Russland, da der gesamte Familienverband direkt oder durch sog. Reflexverfolgung durch Angehörige der russischen organisierten Kriminalität bedroht ist.

2. Droht Betroffenen eine Gefährdung durch die russische organisierte Kriminalität, besteht im Einzelfall kein ausreichender Schutz durch russische Sicherheitsbehörden, da diese durch Korruption faktisch ausgeschaltet werden können. Ein solcher Einzelfall ist gegeben, wenn die organisierte Kriminalität über hierzu ausreichende finanzielle Mittel verfügt und ein besonders hohes Interesse an einem Vorgehen gegen den Betroffenen hat.

3. Es besteht dann auch keine innerstaatliche Schutzalternative, da die Aktivitäten der russischen organisierten Kriminalität sich über die ganze Russische Föderation und bis in die Nachbarstaaten erstrecken.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, kriminelles Unrecht, Mafia, organisierte Kriminalität, Korruption, Schutzbereitschaft, subsidiärer Schutz, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Staat, Sippenhaft, Vorverfolgung, Familie,
Normen: AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 4 Abs. 3, AsylG § 3d, AsylG § 3d Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 5, AsylG § 4 Abs. 3, AsylG § 3e, AsylG § 3e Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3d Abs. 2,
Auszüge:

[...]

2. Dies vorweggeschickt, gelangt das Gericht zur erforderlichen Überzeugung dahingehend, dass den Klägern im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation — insgesamt — ein im Normsinne ernsthafter Schaden (§ 4 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 2) durch die russische organisierte Kriminalität als tauglichem Akteur (§§ 4 Abs. 3; § 3c Nr. 3 AsylG) drohen würde (nachfolgend a.). Hiervor würde der russische Staat keinen ausreichenden und wirksamen Schutz bieten (nachfolgend b.) und den Klägern stünde auch keine zumutbare innerstaatliche Schutzalternative zur Seite (nachfolgend c.).

a. Das Gericht konnte sich durch eine bis ins Detail glaubhafte Schilderung der Geschehensabläufe in der Russischen Föderation bereits im Rahmen des Asylverfahrens und eine hierzu gänzlich kongruente Darstellung der Fluchtgründe durch den glaubwürdigen Kläger zu 2.) im Rahmen der Terminsstunde am 27.03.2019 die i.R.d. § 108 Abs. 1 VwG0 unter europarechtskonformer Mitberücksichtigung des Art. 4 Abs. 3 bis Abs. 5 der Richtlinie 2011/95/EU erforderliche, aber auch ausreichende Überzeugung davon verschaffen, dass der gesamte Familienverbund direkt oder aber im Sinne einer sogenannten Reflexverfolgung (hierzu ausführlich: VG Trier, Urteil vom 05.11.2018 - 1 K 2920/18.TR juris) durch die beteiligten Elemente der russischen organisierten Kriminalität bedroht wäre, sollten die Kläger in ihr Heimatland zurückkehren müssen. [...]

b. Steht damit eine initial beachtliche Rückkehrgefährdung durch die Russische organisierte Kriminalität im Raum, vermag das Gericht auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnismittellage die Einschätzung der Beklagten nicht zu teilen, wonach der russische Staat hiervor einen i.S.d. § 3c Nr. 3 Halbsatz 2 AsylG (i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG) wirksamen Schutz zu bieten imstande sei.

aa. Nach 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. den §§ 3c Nr. 3; 3d AsylG kann der Schutz vor einem ernsthaften Schaden durch den Staat gewährt werden. Es besteht also grundsätzlich ein Zusammenhang zwischen dem Eintritt eines ernsthaften Schadens und dem Fehlen eines wirksamen Schutzes davor, sofern die Bedrohung — wie hier — von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht. Wird jedoch festgestellt, dass im Herkunftsland angemessener, nationaler, Schutz verfügbar ist, kann der Ausländer nicht behaupten, eine fallrelevante Bedrohung zu fürchten. Übergriffe durch nichtstaatliche Akteure stellen nämlich nur dann eine beachtliche Bedrohung dar, wenn sie mit dem Unvermögen des Staates einhergehen, Schutz zu gewähren. Um einen in diesem Sinne wirksamen Schutz zu gewähren muss der Betroffene einen individuellen Zugang zum staatlichen Schutzsystem haben und dieses muss hinreichend wirksam sein (§ 3d Abs. 2 AsylG).

bb. Aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls vermag das Gericht die Ansicht der Beklagten, dass die Kläger einen wirksamen Schutz durch die russischen Sicherheitsorgane erfahren würden, nicht zu teilen, da es beachtlich wahrscheinlich ist, dass diejenigen mafiösen Strukturen, welche im Sachvortrag der Kläger thematisiert wurden, über die erforderlichen (finanziellen) Mittel verfügen, um den staatlichen Schutz v.a. mittels Korruption de facto auszuschalten, wodurch das geforderte Schutzniveau des § 3d Abs. 2 AsylG (i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG) im Einzelfall eindeutig unterschritten würde. Das EASO führte hierzu jüngst aus:

"[...] Die Korruption bei der Polizei in Russland hat viele verschiedene Formen, von kleinen Bestechungsgeldern bis hin zu Unterstützung der organisierten Kriminalität. [...] Nach Auffassung von Semukhina und Reynolds gehören zu den gefährlichsten Formen der Korruption bei der Polizei in Russland "von oben angeordnete" Aktivitäten im Zusammenhang mit unsichtbaren, gut koordinierten Dienstleistungen der Polizei für Gruppen der organisierten Kriminalität zusammen mit der Schutzgelderpressung von Unternehmen. [...]"

Die Eindeutigkeit dieses auch methodisch einwandfreien Erkenntnismittels (vgl. hierzu: UNHCR, Country of Origin Information: Towards Enhanced International Cooperation, February 2014) bedarf jedenfalls im Kontext des besonders langwierigen und "gewachsenen" Konfliktes des klägerischen Familienverbundes mit der dortigen "Mafia" keiner weiteren Erörterung mehr. Zwar lässt sich eine entsprechende Schutzlosigkeit i.S.d. § 3c Nr. 3 Halbsatz 2 AsylG keinesfalls auf alle Fälle ausdehnen, in denen der Schutzsuchende einen wie auch immer gearteten Konflikt mit der russischen organisierten Kriminalität (glaubhaft) ins Felde führt, hier sei jedoch — nochmals — auf die langjährige, generationenübergreifende und damit gänzlich atypische Bedrohungslage verwiesen, aus der sich vice versa auch ein entsprechend hohes Interesse der organisierten Kriminalität ableiten lässt, ihre "Forderungen" mit allen Mitteln einzutreiben, nicht zuletzt auch, um insoweit ein Exempel zu statuieren. Insoweit sei noch erwähnt, dass die entsprechenden, gegenteiligen Ausführungen der Beklagten nicht mit entsprechenden aussagekräftigen Erkenntnismitteln untermauert sind und insoweit durch das Gericht auch nicht nachvollzogen werden können. Eine derartige Verbescheidung mag zwar noch den Anforderungen des § 39 VwVfG genügen, kann die Ablehnung des Asylantrages jedoch nicht in der Sache tragen und entspricht auch sonst nicht dem Grundsatz des nobile officium.

c. Auch das Bestehen einer wirksamen innerstaatlichen Schutzalternative (§§ 4 Abs. 3, 3e AsylG) kann aufgrund der glaubhaften Fluchtgeschichte der Kläger nicht angenommen werden. Insoweit wäre allenfalls ein zeitlich begrenzter Schutz erreichbar, der aufgrund der im Einzelfall landesweiten — und sogar bis in die Nachbarstaaten reichenden — Aktivitäten der organisierten Kriminalität nicht das von den §§ 3e Abs. 1 Nr. 1; 3d Abs. 2 AsylG (i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG) geforderte Schutzniveau erreicht. [...]