VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 22.02.2019 - 8 B 29/19 - asyl.net: M27174
https://www.asyl.net/rsdb/M27174
Leitsatz:

Keine Überstellung nach Bulgarien nach dort abgelehntem Asylantrag:

Schutzsuchenden, deren Asylantrag in Bulgarien abgelehnt wurde und die daher dort einen Folgeantrag stellen müssten, droht Haft und danach Obdachlosigkeit. Beides stellt einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Bulgarien, Asylfolgeantrag, Haft, Obdachlosigkeit, Aufnahmebedingungen, Asylverfahren, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Ablehnungsbescheid, Ablehnung,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Eine Abschiebung des Antragstellers, dessen Asylantrag in Bulgarien bereits inhaltlich abgelehnt worden ist, ist derzeit rechtlich unmöglich. Denn bei seiner Abschiebung nach Bulgarien besteht nach der Auswertung der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel die ernsthafte Gefahr einer Art. 3, 5 Abs. 4 EMRK verletzenden Behandlung, so dass seiner Abschiebung § 60 Abs. 5 AufenthG entgegensteht. Der Antragsteller würde bei seiner Rückkehr unter ihm nicht zumutbaren Bedingungen inhaftiert und selbst bei seiner Freilassung, etwa aufgrund der Unmöglichkeit seiner Abschiebung, ohne jedwede staatliche Unterstützung bleiben (vgl. auch VG Düsseldorf, Beschl. v. 29.08.2018 - 29 L 2092/18.A -, juris Rn. 18).

1. Bei einer Rücküberstellung des Antragstellers nach Bulgarien nach der Dublin III-Verordnung würde sein bereits abgeschlossenes Asylverfahren nicht fortgesetzt. Für ihn bestünde lediglich die Möglichkeit eines Asylfolgeantragsverfahrens, was rechtlich nicht zu beanstanden sein, sondern vielmehr den Vorgaben der einschlägigen europäischen Richtlinien (insbesondere Art. 2 Buchst. q, 18, 28, 46 RL 2013/32/EU) entsprechen dürfte. [...]

Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse geht das Gericht davon aus, dass der Antragsteller, dessen Asylantrag aller Voraussicht nach bereits inhaltlich abgelehnt wurde, bei seiner Rückkehr nach Bulgarien in Haft genommen würde und ihm die damit verbundenen Unterbringungsbedingungen nicht zuzumuten wären (dazu a)). Selbst bei seiner Freilassung wäre er einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt (dazu b)).

a) Die Haftbedingungen in Bulgarien für abgelehnte Schutzsuchende wären dem Antragsteller nicht zuzumuten. Dies folgt für das Gericht aus einer Gesamtwürdigung der folgenden Erwägungen: Die hygienischen Zustände der Schlafgelegenheiten sind mangelhaft, ein Aufsuchen der sanitären Anlagen in der Nacht nicht immer möglich und die Versorgung mit Hygieneartikeln nicht gewährleistet. Möglichkeiten der Freizeitbeschäftigung stehen so gut wie nicht zur Verfügung. Eine kostenlose medizinische Versorgung und Reinigung der Räumlichkeiten ist nicht gewährleistet, obwohl die Inhaftierten keine finanzielle Unterstützung erhalten. Am schwersten wiegt allerdings, dass eine Inanspruchnahme von Rechtsschutz, wie sie auch in Art. 5 Abs. 4 EMRK vorgesehen ist, durch eine unzureichende Information der Inhaftierten über ihre Rechte und nicht vorgesehene bzw. vorhandene staatliche (kostenlose) Rechtshilfe zumindest erschwert wird (vgl. auch VG Düsseldorf, Beschl. v. 29.08.2018 - 29 L 2092/18.A -, juris Rn. 27 f.; a.A. wohl VG Karlsruhe, Urt. v. 30.10.2018 - A 13 K 15354/17 -, juris Rn. 39).

b) Auch bei einer Entlassung des Antragstellers aus der Haft - etwa in dem Fall, dass seine Abschiebung nicht möglich ist - wäre er aufgrund der ihn in Bulgarien erwartenden Lebensbedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt.

Bei der Prüfung, ob Bulgarien hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzsuchenden gegen Art. 3 EMRK verstößt, ist ein strenger Maßstab anzulegen (Nds. OVG, Urt. v. 09.04.2018 - 10 LB 92/17 -, juris Rn. 27). Auch ist im Hinblick auf die Situation rücküberstellter Schutzsuchender zu beachten, dass Art. 3 EMRK die Vertragsstaaten nicht aus sich heraus dazu verpflichtet, jedermann in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen und Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (OVG Saarland, Urt. v. 19.04.2018 - 2 A 737/17 -, juris Rn. 20; Nds. OVG, Urt. v. 04.04.2018 - 10 LB 96/17 -, juris Rn. 37). Art. 3 EMRK ist im Kern ein Abwehrrecht gegen unwürdiges Verhalten des Staates im Sinne eines strukturellen Versagens bei dem durch den Vertragsstaat zu gewährenden angemessenen materiellen Mindestniveau und weniger ein individuelles Leistungsrecht einzelner Personen auf bestimmte materielle Lebens- und Sozialbedingungen. Schutzsuchende müssen sich deshalb auf den für alle bulgarischen Staatsangehörigen vorhandenen Lebensstandard verweisen lassen. Durch Missstände im sozialen Bereich wird die Eingriffsschwelle von Art. 3 EMRK mithin nur unter strengen Voraussetzungen überschritten (Nds. OVG, Urt. v. 04.04.2018 - 10 LB 96/17 -, juris Rn. 37). Es ist aber jedenfalls mit den vorgenannten Vorschriften unvereinbar wenn Schutzsuchende (oder anerkannte Schutzberechtigte oder abgelehnte Schutzsuchende) - in einem ihnen völlig fremden Umfeld - vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit sowie Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden, mithin, wenn sie ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können (etwa Fehlen eines Zugangs zum Arbeitsmarkt und staatlicher Unterstützung), kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Behandlung erhalten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 10, 11). Danach liegt eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK (insbesondere) vor, wenn im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieser Grundrechte mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass der Betroffene in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) - im Unterschied zu den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats - nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann und der betreffende Mitgliedstaat dem mit Gleichgültigkeit begegnet, weil er auf die gravierende Mangel- und Notsituation nicht mit (geeigneten) Maßnahmen reagiert (Nds. OVG, Urt. v. 09.04.2018 - 10 LB 92/17 -, juris Rn. 32).

Einer solchen Situation wäre der Antragsteller in Bulgarien bei seiner Entlassung aus der Haft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt. Abgelehnte Schutzsuchende haben nach Beendigung ihrer Inhaftierung, auch wenn sie einen Folgeantrag gestellt haben, nach den aktuell vorliegenden Erkenntnismitteln keinen Anspruch auf materielle Versorgung. Dem Antragsteller droht daher bei einer Entlassung aus der Haft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit (vgl. auch VG Düsseldorf, Besohl, v. 29.08.2018 - 29 L 2092/18.A -, juris Rn. 35) ohne jegliche staatliche Unterstützungsleistung, so dass die Befriedigung seiner elementaren menschlichen Grundbedürfnisse nicht gewährleistet wäre (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 30.10.2018 - A 13 K 15354/17 -, juris Rn. 34 zu Folgeantragstellern). Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Antragsteller in der Lage wäre, in Bulgarien selbst für sich in zumutbarer Weise zu sorgen (anders für einen alleinstehenden jungen Mann: VG Düsseldorf, Beschl. v. 17.05.2018 - 22 L 5756/17.A -, juris Rn. 73; vgl. dazu auch OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 24.05.2018 - 4 LB 17/17 -, juris Rn. 101). Selbst anerkannt Schutzberechtigten droht in Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit und sie haben große Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden, ohne finanzielle Unterstützung durch den bulgarischen Staat (Nds. OVG, Urt. v. 31.012018 - 10 LB 87/17 -, juris; a.A. VG Cottbus, Beschl. v. 22.01.2019 - 5 L 696/18.A -, juris Rn. 17 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 30.10.2018 - A 13 K 3922/18 -, juris). Dass die Bedingungen für abgelehnte Schutzsuchende besser sein könnten als für anerkannte Schutzberechtige, ist nicht ersichtlich und liegt fern. Zureichende Bemühungen Bulgariens zur Verbesserung der Bedingungen für abgelehnte Schutzsuchende sind nicht zu erkennen. So fehlt es etwa bereits an einem gesetzlich vorgesehenen Anspruch auf eine gewisse Mindestversorgung zur Sicherung der elementarsten menschlichen Bedürfnisse. [...]