OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 20.02.2019 - 2 LB 122/18 - asyl.net: M27186
https://www.asyl.net/rsdb/M27186
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Sunniten aus Hama, der wegen Demonstrationsbeteiligung verhaftet wurde:

1. Ein aus Hama stammender Mann sunnitischer Religionszugehörigkeit, der im Zuge der regierungskritischen Demonstrationen 2012 verhaftet wurde und nach der Zerstörung seiner Wohnung durch spätere Regierungsangriffe das Land verlassen hat, droht Verfolgung wegen der ihm zugeschriebenen oppositionellen politischen Überzeugung.

2. Einem bei Ausreise über 42 Jahre altem Mann droht keine Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung, da er aufgrund seines Alters aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte nicht verpflichtet war, sich in Hinblick auf die Ableistung seines Wehrdienstes zur Verfügung zu halten (unter Bezugnahme auf OVG Saarland, Urteil vom 17.10.2017 - 2 A 365/17 - asyl.net: M25701).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Aufstockungsklage, Upgrade-Klage, Hama, Sunniten, Wehrdienstentziehung, subsidiärer Schutz, Militärdienst, Wehrpflicht, politische Verfolgung, Flüchtlingseigenschaft, Verfolgungsgrund, Rückkehrgefährdung, Asylantrag, Asylantragstellung, Auslandsaufenthalt, Rebellenhochburg,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3b, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 1 Bst. e, RL 2011/95/EU Art. 12 Abs. 2, AsylG § 28 Abs. 1a,
Auszüge:

[...]

Eine begründete Furcht vor Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG liegt jedoch aufgrund von Ereignissen vor, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat bzw. durch das Verlassen des Landes selbst (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG). Dem Kläger droht bei einer (hypothetischen) Rückkehr in seinen Heimatstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1 und 2 AsylG (a.). Es besteht auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verknüpfung zwischen dieser Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund i.S.d. §§ 3 Abs. 1, 3b AsylG (b.).

a. Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände seines Falles tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 – 10 C 23.12 – juris, Rn. 32), so dass ihm nicht zuzumuten ist, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. [...]

Im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) droht dem Kläger bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien mit so verstandener beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a AsylG bereits in der Form, bei der Einreise einer eingehenden Befragung unterzogen zu werden, mit der die konkrete Gefahr einer Verhaftung und / oder einer schwerwiegenden Misshandlung bis hin zur Folter und willkürlichen Tötung einhergeht. [...]

b. Es fehlt im Fall des Klägers auch nicht an der nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3b Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen. [...]

Dem Kläger ist zwar – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts – die Flüchtlingseigenschaft weder wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung, die an eine mögliche, durch die Ausreise erfolgte Wehrdienstentziehung anknüpfen könnte (aa.), noch wegen einer drohenden Verfolgungshandlung nach § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zuzuerkennen (bb.). Dem Kläger drohen jedoch mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen vor dem Hintergrund der Kombination seiner Herkunft aus Hama, seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit und seiner bereits einmal erfolgten Verhaftung im Zusammenhang mit regierungskritischen Demonstrationen (cc.).

aa. Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit deshalb Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG, weil er sich aus Sicht des syrischen Regimes mit dem Verlassen des Landes der Militärdienstpflicht entzogen hätte und das Regime ihm aufgrund dessen eine oppositionelle politische Haltung zuschriebe. [...]

Beim Kläger fehlt es sowohl aufgrund seines Lebensalters als auch angesichts seiner Freistellung an der tatsächlich bestehenden Militärdienstpflicht, weshalb auch aus Sicht der Sicherheitskräfte eine oppositionelle Gesinnung in seiner Ausreise mangels Militärdienstpflicht nicht zum Ausdruck kommt. Der Kläger war bei seiner Ausreise aus Syrien im Mai 2014 bereits 46 Jahre alt und daher nicht mehr im wehrpflichtigen Alter. In Syrien besteht – ungeachtet der Praxis, zunehmend auch ältere Männer zum Wehrdienst heran-zuziehen – nach dem Gesetz unverändert eine Wehrdienstpflicht für alle männlichen Syrer nur bis zum Alter von 42 Jahren, so dass der Kläger damals auch keine Ausreisegenehmigung mehr benötigte (vgl. ebenso OVG Saarland, Urt. v. 17.10.2017 – 2 A 365/17 – juris, Rn. 25). [...]

cc. Eine umfassende Gesamtwürdigung aller möglicherweise eine Verfolgungsgefahr be-gründenden und risikoerhöhenden Umstände ergibt jedoch, dass dem Kläger mit beacht-licher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen wegen einer ihm seitens des syrischen Regimes zugeschriebenen politischen Überzeugung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG) vor dem Hintergrund der Kombination seiner Herkunft aus Hama, seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit und seiner bereits einmal erfolgten Verhaftung im Zusammenhang mit regierungskritischen Demonstrationen.

Der Senat geht in Übereinstimmung mit seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. Urteil des Senats vom 24.01.2018 – 2 LB 194/17 –, juris) nicht davon aus, dass aus dem Ausland nach Syrien Zurückkehrende allein aufgrund ihrer Herkunft aus einer vermeintlich regierungsfeindlichen Region von der syrischen Regierung mit oppositionellen Gruppen in Verbindung gebracht werden und Verfolgung ausgesetzt sind. Beim Kläger liegen allerdings insoweit besondere Umstände vor, als er nicht nur aus der Stadt Hama stammt, die wegen des dortigen Massakers 1982 besonders im Fokus der Sicherheitskräfte stehen dürfte, sondern im Zusammenhang mit regierungskritischen Demonstrationen bereits einmal verhaftet worden ist. Gefahrerhöhend kommt hinzu, dass der Kläger dieselbe Religionszugehörigkeit hat wie die bereits vom syrischen Regime 1982 blutig bekämpfte Muslimbruderschaft.

Nach Presseinformationen stellt das Massaker von Hama vor über 30 Jahren ein nationales Trauma dar. Aus den Berichten ergibt sich, dass die dortige Bevölkerung offenbar pauschal als aufrührerisch eingeordnet wird; die Stadt gelte als Rebellenhochburg (Bericht des Deutschlandfunks "Die Toten von Hama" vom 02.02.2012, abrufbar unter www.deutschlandfunk.de/die-toten-von-hama.724.de.html ). [...] Auch die Wohnung des Klägers wurde nach seinen glaubhaften Angaben, die er bereits bei seiner ersten Anhörung gemacht und auch in der mündlichen Verhandlung wiederholt hat, zerstört. Grund für die Flucht des Klägers war somit gerade ein Angriff der Regierungskräfte auf die Zivilbevölkerung. Seine Situation stellt sich daher bereits anders dar als die derjenigen, die aus ihrer Heimatregion vor der Gewalt der Opposition oder der Rebellengruppen geflohen sind.

Risikoerhöhend kommt für den Kläger hinzu, dass er sunnitischer Religionszugehörigkeit ist. Zwar hält der Senat an der Einschätzung fest, dass die sunnitische Religionszugehörigkeit allein keine asylrelevante Verfolgungsgefahr zu begründen vermag. In Kombination mit der Herkunft des Klägers aus Hama kann sie sich jedoch gefahrerhöhend auswirken. Denn das Massaker 1982 diente der Machtdemonstration des syrischen Regimes im Wege der Niederschlagung der Muslimbruderschaft, einer sunnitischen Bewegung. Insofern ist es naheliegend, dass ein aus der seit über 30 Jahren als Rebellenhochburg wahrgenommenen Stadt Hama stammender Sunnit eher Gefahr läuft, wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Gesinnung verfolgt zu werden, als Angehörige anderer Religionsgemeinschaften.

Schließlich ist im Fall des Klägers maßgeblich in die Gefahrenprognose einzubeziehen, dass er im Zusammenhang mit den erneuten regierungskritischen Demonstrationen 2012 bereits einmal ins Visier der Sicherheitskräfte geraten und verhaftet worden ist. Der Senat ist der Überzeugung, dass ein aus Hama stammender Sunnit, der im Zuge der regierungskritischen Demonstrationen 2012 verhaftet wurde und nach der Zerstörung seiner Wohnung durch nachfolgende Regierungsangriffe die Region und im Anschluss das Land verlassen hat, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG) Verfolgungshandlungen bei einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien zu befürchten hat. [...]