VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 14.02.2019 - 3 A 393/18 HAL - asyl.net: M27217
https://www.asyl.net/rsdb/M27217
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine Iranerin wegen Konversion zum Christentum

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Christen, Konvertiten, religiöse Verfolgung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die Wichtigkeit der Befolgung einer bestimmten gefahrenträchtigen religiösen Praxis für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen Identität hingegen ist als subjektives Element zu bewerten. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die vom Betroffenen ausgeübte Praxis für die Religionsgemeinschaft an sich von zentraler Bedeutung ist, sondern ob sie für den Betroffenen für die Wahrung seiner religiösen Identität von tragender Bedeutung ist. Im Vordergrund steht somit, ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für den Betroffenen nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (BVerwG, a.a.O., Rn. 29). Für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist damit die Intensität des Drucks auf die Willensbildung des betroffenen Ausländers, seinen Glauben auszuüben oder zu verzichten, ausschlaggebend (BVerwG, a.a.O. Rn. 29; VGH BW Urteil vom 12.6.2013 - A 11 S 757/13 -. juris Rn. 48).

Diesen Umstand hat der Betroffene zur vollen Überzeugung des Gerichts nachzuweisen (BVerwG v. 25.8.2015 - 1 B 40.15 - juris Rn. 13; Urteil vom 20.2.2013 - 10 C 23.12, juris Rn. 30; OVG NRW, Beschluss vom 11.10.2013 - 13 A 2041/13.A,  juris Rn. 7; Urteil vom 7.11.2012 - 13 A 1999/07.A -, juris Rn. 13). Kirchliche Bescheinigungen und Einschätzungen können dabei berücksichtigt werden, gebunden an die darin enthaltenen Feststellungen ist das Gericht jedoch nicht (BVerwG Beschluss vom 25.8.2015 - 1 B 40.15 - , juris Rn. 9 ff.; BayVGH, Beschluss vom 9.4.2015 - 14 ZB 14.3044 - , juris Rn. 5). Da es sich bei der religiösen Identität zudem um eine innere Tatsache handelt, kann diese lediglich aus dem Vortrag des betroffenen Ausländers und/oder aus einem Rückschluss von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Haltung des Betroffenen durch eine ausführliche Anhörung in der mündlichen Verhandlung festgestellt werden (BVerwG Urteil vom 25.8.2015 - 1 B 40.15 -, juris Rn 14; BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 - 10 C 23.12 -, juris 31; VGH BW Urteil vom 12.6.2013 - A 11 8 757/13 -, juris Rn. 50). [...]

Im Iran ist der - schiitische - Islam Staatsreligion. 98 % der iranischen Bevölkerung sind muslimischen Glaubens. Es steht nach der Verfassung der Republik Iran einem muslimischen Bürger nicht das Recht zu, sich seinen Glauben auszusuchen, zu wechseln oder aufzugeben. Da bereits das Kind eines muslimischen Mannes mit der Geburt zum Moslem wird, ist eine freie Entscheidung über die Religionszugehörigkeit nur eingeschränkt bzw. nicht möglich. Hinzu kommt, dass der Wechsel (Konversion) zu einem anderen Glauben auch zum Atheismus als Abfall (Abtrünnigkeit) vom Islam angesehen wird (Apostasie). Das Strafrecht der Republik Iran stellt zwar die Konversion nicht unter Strafe, jedoch können Richter diesen Wechsel nach der Scharia, die ebenfalls angewandt werden kann, mit der Todesstrafe belegen (vgl. zu all dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Iran, 31.03.2016 (im Folgenden: BFA), S. 46 ff. m.w.N.). Seit etwa 2011 nimmt die Überwachung christlicher Aktivitäten im Iran zu, da der iranische Staat davon ausgeht, dass es sich bei der Verbreitung des Christentums um einen Angriff ausländischer Bewegungen unter anderen aus den USA auf den iranischen Staat handelt. Deshalb werden seit diesem Zeitpunkt Konvertiten vermehrt angeklagt wegen der Bedrohung der nationalen Sicherheit oder Spionage, einschließlich der Verbindungen zu ausländischen Organisationen und Feinden des Islams. Weitere Anklagen gegen Konvertiten wurden erhoben wegen "Bildung einer illegalen Gruppierung", "Handlungen gegen die nationale Sicherheit durch illegale Versammlungen" sowie zahlreiche andere in diese Richtung gehende Anklagen (ausführliche Beschreibung dieser Praxis in BFA. S. 52 f. m.w.N. auf andere Berichte). Die Einschränkung der Verbreitung von christlichen Informationsmaterialien von Seiten der iranischen Regierung geht hiermit auch einher. So darf der christliche Gottesdienst nicht auf Farsi abgehalten werden. Druckereien bzw. Verlage werden angehalten, christliches Material nicht zu drucken. Bibeln werden konfisziert. Darüber hinaus werden nach Berichten von Mohabat News und Open Doors Razzien in Hauskirchen und Kirchengemeinden durchgeführt, Bibeln und andere christliche Materialien konfisziert und Christen muslimischer Herkunft verhaftet (Auswärtiges Amt - Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, Stand: Dezember 2017, S. 12 (im Folgenden: AA). Christliche Hauskirchen werden in Medien als "illegale Netzwerke" und "Zionistische Propagandainstitutionen" charakterisiert (BFA, S. 51). Gegen mehrere Konvertiten wurden 2017 hohe Haftstrafen verhängt (AA, S. 13). Häufig werden auch die Vorwürfe der "Waffenaufnahme gegen Gott" ("moharebeh") oder der "Verdorbenheit auf Erden" ("mofsid filarz/fisad-al-arz") erhoben (BFA, S. 50). Die Verfolgung von Konvertiten und Christen erfolgt dabei nicht systematisch, sondern erfolgt stichprobenartig. Dies unter anderem, wenn es Hinweise aus der Bevölkerung über hauskirchliche oder private Versammlungen gibt (BFA, S. 49 m.w.N., siehe auch AA vom 11.4.2018, Amtshilfeersuchen in Asyl- und Rückführungsangelegenheiten unter Frage 4). Die Zahl der Hauskirchen wurde 2008 auf zwischen 20.000 und 100.000 landesweit geschätzt. Es besteht jedoch Einigkeit darüber, dass die Anzahl der Hauskirchen in den vergangenen Jahren stark angestiegen ist (Amtshilfeersuchen in Asyl- und Rückführungsangelegenheiten, AA vom 11.4.2018 zu Frage 1). Konvertiten verhalten sich aus all diesen Gründen eher zurückhaltend mit der Offenlegung ihres Glaubenswechsels, um Aufmerksamkeit zu vermeiden (BFA, S. 50). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe weist in ihrem Bericht darauf hin, dass laut der UN Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in Iran von staatlicher Seite und vom Klerus gezielt gegen Konvertierte mit muslimischen Hintergrund durch willkürliche Verhaftungen und strenge Maßnahmen vorgegangen wird (Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, Iran: Gefährdung von Konvertierten, Schnellrecherche der SFH - Länderanalyse, 7. Juni 2018, Seite 7 (im Folgenden: SFH)). Konvertierte würden auch zu besonders hohen Strafen verurteilt und gegen Hauskirchen werde verstärkt vorgegangen. Das Risiko für Konvertierte, festgenommen zu werden, besteht nicht nur während der Teilnahme an Hauskirchen, sondern auch an anderen Orten. So berichtet die SFH von einem Mann, der christliche Musik in seinem Auto gehört habe, deshalb verprügelt und mit dem Tod bedroht worden sei. Dieser Mann sei mitgenommen, festgenommen und zu seinem Bibelbesitz verhört worden. Auch Verhaftungen am Arbeitsplatz, bei Beerdigungen oder an Familienfeiern würden vorkommen. Die Festgenommenen müssten sodann für ihre Haftentlassung häufig eine Kaution bezahlen, ihren neuen Glauben verleugnen oder sich als Informanten zur Verfügung stellen. Soweit Konvertierte gegen Kaution freigelassen werden wurden, bestehe häufig eine große Ungewissheit aufgrund eines anhängigen Rechtsverfahrens und der Möglichkeit einer erneuten Inhaftierung. Selbst wenn eine Anklage nie offiziell erfolge und das Gerichtsverfahren vertagt worden sei, bestehe für die Betroffenen jederzeit die Gefahr, dass das Verfahren wieder aufgenommen werde (zu alldem SFH, Seite 9 mit weiteren Nachweisen). Auch Familienangehörige von konvertierten Personen seien Ziel von staatlichen Maßnahmen. Diese seien staatlichen Schikanen ausgesetzt. So gebe es Beispiele dafür, dass Familienangehörige ihre Arbeitsstelle verlören oder kein Studium aufnehmen könnten. Auch Eltern fortgeschrittenen Alters würden von den staatlichen Behörden schikaniert (SFH, Seite 13). Sollten Konvertierte nach einem negativen Asylbescheid in den Iran zurückkehren, würden sie festgenommen und verhört. Zudem sei es ihnen nicht möglich, ihren Glauben offen zu praktizieren (vergleiche zu alldem und zur Taufe SFH, Seite 17-21). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich nach den Berichten für den Zeitraum 2017-2019 die Lage für zum Christentum konvertierte Muslime stark verschlechtert hat. Eine regelmäßige Glaubensausübung ohne Angst vor Verfolgung ist dieser Personengruppe nicht mehr möglich. Gegenüber getauften Personen, die nunmehr auch nach außen hin sichtbar zum christlichen Glauben konvertiert sind, sind staatliche Verfolgungsmaßnahmen sehr wahrscheinlich. Der Ort der Taufe, ob im Iran oder im Ausland, ist für eine staatliche Verfolgung nicht von entscheidender Bedeutung. [...]

Nach den oben angegebenen Erkenntnismitteln können im Iran zum Christentum konvertierte Muslime staatlichen Repressionen ausgesetzt sein (siehe hierzu auch VG Augsburg, Urteil vom 20.07.2017 - 5 K 17. 30799, juris Rn. 30 m.w.N.) und müssen auch mit Verfolgungsmaßnahmen Dritter rechnen, wenn sie Gottesdienste im privaten Bereich abhalten. Für zum Christentum konvertierte Muslime ist eine religiöse Beschäftigung auch im häuslichen, privaten Bereich nicht mehr gefahrlos möglich. Eine Verfolgungsgefahr besteht somit nicht nur für Mitglieder einer Kirchengemeinde, die eine herausgehobene Rolle in dieser Gemeinde einnehmen oder für Christen, die missionarisch tätig werden, sondern auch für einfache Mitglieder einer christlichen Gemeinschaft, die lediglich ihren Glauben im privaten Bereich ausüben wollen. Diese Christen sind vor allem wenn es sich um zum Christentum übergetretene Muslime handelt, bereits dann einer konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt, wenn sie ihren christlichen Glauben in einer Gemeinschaft ausüben wollen bzw. sich zum christlichen Glauben bekennen (vergleiche zu alldem auch VG Augsburg, a.a.O., sowie oben SFH, a.a.O.). Ausgehend hiervon wäre die Klägerin voraussichtlich mit hoher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen des iranischen Staates oder Dritter ausgesetzt, wenn sie ihren neuen christlichen Glauben im Iran so ausüben wollte, wie sie ihn hier in der Bundesrepublik Deutschland praktiziert. Allein die Teilnahme an Gottesdiensten dürfte ihr im Iran nicht ohne Gefahr möglich sein. [...]