OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 05.06.2019 - 4 Bf 53/19.AZ - asyl.net: M27341
https://www.asyl.net/rsdb/M27341
Leitsatz:

Keine Pflicht zur Mitwirkung an der eigenen Überstellung:

"1. Ein Asylbewerber ist nicht flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO, wenn er am in der Meldeauflage festgelegten Ort und in engem zeitlichen Zusammenhang mit der darin vorgegebenen Uhrzeit für die zuständige Behörde erkennbar anwesend und ansprechbar ist und sich hierbei lediglich verbal weigert, an der Überstellung mitzuwirken.

2. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verlangt auch, dass eine seitens des Gerichts in einer Hinweisverfügung gewährte Stellungnahmefrist abgewartet werden muss, bevor die Entscheidung getroffen werden darf. Ansonsten liefe der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs leer.

3. Geht eine Hinweisverfügung, die eine Stellungnahmefrist von einer Woche setzt, für den Beteiligten erkennbar mit deutlicher Verzögerung bei ihm ein, ist dieser veranlasst, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, indem er beim Verwaltungsgericht den Lauf der Frist klärt und ggf. frühzeitig Fristverlängerung beantragt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, flüchtig, Selbstgestellung, rechtliches Gehör,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a), AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, GG Art. 103 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die von der Beklagten - sinngemäß - aufgeworfene Frage, ob ein Asylbewerber auch dann im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO flüchtig ist, wenn er zum Zeitpunkt des Überstellungsversuchs für die Behörde erkennbar anwesend war und er sich lediglich verbal weigerte, bei der Überstellung mitzuwirken, lässt sich unter Rückgriff auf bereits ergangene Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und der Obergerichte ohne weiteres beantworten, ohne dass es hierfür der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf.

Auf Vorlage des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschl. v. 15.3.2017, A 11 S 2151/16, ESVGH 67, 250, juris) hat der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO dahin auszulegen ist, dass ein Antragsteller flüchtig im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet worden ist, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat (EuGH, Urt. v. 19.3.2019, C-163/17, juris Rn. 70). Der Gerichtshof der Europäischen Union setzt bei der Beantwortung der Vorlagefrage, ob ein Asylbewerber nur dann flüchtig ist, wenn er sich gezielt und bewusst dem Zugriff der zuständigen Behörden entzieht, ersichtlich voraus, dass die Überstellung deswegen scheiterte, weil den zuständigen Behörden der konkrete Aufenthaltsort des Asylbewerbers - etwa weil er die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat - nicht bekannt war. [...] Da sich der Kläger vorliegend aber gerade nicht an einem den mit der Überstellung betrauten Sachbearbeitern des Einwohner-Zentralamtes der Freien und Hansestadt Hamburg unbekannten Ort aufhielt, sondern diese ihn - wenn auch nur zufällig - genau an dem Ort in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu der in der Meldeauflage festgesetzten Zeit antrafen, ergibt sich nach der Definition des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht, dass der Kläger im Streitfall flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO gewesen ist.

Auch die obergerichtliche Rechtsprechung setzt - soweit ersichtlich - bei der Definition der Flüchtigkeit im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO voraus, dass sich der Betroffene an einem der zuständigen Behörde unbekannten Ort aufhält. Der Begriff der Flüchtigkeit wird dahin definiert, dass als "flüchtig" im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO jede Form des unbekannten Aufenthalts eines Asylbewerbers zu verstehen ist, mit der er sich vorsätzlich und unentschuldigt der Abschiebung entzieht (vgl. VGH München, Beschl. v. 29.4.2016, 11 ZB 16.50024, juris Rn. 8). Demnach ist bei der Definition der Flüchtigkeit darauf abzustellen, ob sich der Betroffene zur Zeit des Überstellungsversuchs an einem unbekannten Ort außerhalb des letzten der zuständigen Behörde bekannten Aufenthaltsorts aufhält (so auch OVG Schleswig, Beschl. v. 14.9.2018, 1 LA 40/18, NvWZ-RR 2019, 292, juris Rn. 6 und Beschl. v. 23.3.2018, 1 LA 7/18, NVwZ-RR 2018, 541 juris Rn. 16; VGH München, der eine Flüchtigkeit ablehnt, wenn sich der Betroffene im offenen Kirchenasyl befindet und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Adresse bekannt ist, Beschl. v. 16.5.2018, 20 ZB 18.50011, juris Rn. 2).

Die Ausführungen der Beklagten geben angesichts der vorliegenden Rechtsprechung keinen Anlass, die von ihr aufgeworfene Frage - immer noch oder erneut - als klärungsbedürftig anzusehen. Die von ihr zitierte Rechtsprechung betrifft andere Sachverhalte bzw. wird von ihr verkürzt wiedergegeben. [...]

Für ihre Auffassung, für die Frage, ob ein Asylbewerber "flüchtig" sei, mache es keinen Unterschied, ob er abwesend, nicht erreichbar oder untergetaucht sei, oder ob er unmissverständlich zum Ausdruck bringe, sich nicht überstellen zu lassen, führt die Beklagte keinen tragfähigen unterstützenden Beleg aus der Rechtsprechung oder der Literatur an. Ihren rechtlichen Ansatz, in einem Fall wie dem vorliegenden werde die Überstellung von dem Asylbewerber vorsätzlich vereitelt, so dass er im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO flüchtig sei, begründet sie nicht hinreichend im Sinne des Darlegungserfordernisses. Weshalb das Verhalten des Klägers seine Überstellung in einer Weise vereitelt haben soll, dass es gerechtfertigt ist, ihn mit der Folge der Verlängerung der Überstellungsfrist von bis zu einem Jahr als flüchtig anzusehen, erschließt sich aus der Begründung des Zulassungsantrags nicht. Im Bescheid der Beklagten vom 28. März 2018 ist die Abschiebung des Klägers angeordnet worden. Da die Beklagte des Klägers habhaft war, ist nicht ersichtlich, weshalb dieser nicht innerhalb der Frist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO abgeschoben werden konnte, wenn er nicht freiwillig auszureisen gedenkt. In diesem Zusammenhang sei auch auf den Sinn der verlängerten Fristen in § 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO hingewiesen. Die Verlängerung der sechsmonatigen Frist wird gestattet, um zu berücksichtigen, dass es aufgrund der Inhaftierung oder der Flucht der betreffenden Person tatsächlich unmöglich ist, die Überstellung durchzuführen (EuGH, Beschl. v. 19.3.2019, C- 163/17, juris Rn. 60). Eine derartige tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung des Klägers ergibt sich aus dem Vorbringen der Beklagten nicht. Insofern legt die Beklagte auch eine weitere Klärungsbedürftigkeit der angesprochenen Frage nicht hinreichend dar.

Nach alledem lässt sich die drittgenannte Frage der Beklagten auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung ohne weiteres dahin beantworten, dass von einer Flüchtigkeit im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO nicht ausgegangen werden kann, wenn der Betroffene am in der Meldeauflage festgelegten Ort und in engem zeitlichen Zusammenhang mit der darin vorgegebenen Uhrzeit für die zuständige Behörde erkennbar anwesend und ansprechbar ist und sich hierbei lediglich verbal weigert, an der Überstellung mitzuwirken. [...]

bb) Auch auf die zweitgenannte Frage, mit der die Beklagte wissen möchte, ob es sich bei der Selbstgestellung um eine von Art. 7 VO Nr. 1560/2003 erfasste Überstellungsmodalität handelt und ob den Asylantragsteller hier eine Mitwirkungspflicht trifft, kommt es im vorliegenden Verfahren nicht an. Selbst wenn man mit der Beklagten annähme, dass die Selbstgestellung eine Überstellungsart nach Art. 7 VO Nr. 1560/2003 darstellt und sich hieraus eine Mitwirkungspflicht ergibt, hätte dies auf die vorliegende Entscheidung keine Auswirkung. Denn vorliegend war nur entscheidungserheblich, ob die Beklagte die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO auf achtzehn Monate verlängern durfte, was zu bejahen gewesen wäre, wenn der Kläger flüchtig gewesen wäre. Bei der Definition des Begriffs "flüchtig" wird indes nicht auf die Überstellungsarten gemäß Art. 7 VO Nr. 1560/2003 abgestellt oder gar nach diesen differenziert. Auch aus der Begründung des Zulassungsantrags ergibt sich nicht, inwiefern ein Zusammenhang zwischen den Überstellungsmodalitäten sowie einer hieraus resultierenden Mitwirkungspflicht und der Flüchtigkeit im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO bestehen könnte. [...]