Flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung von Frauen im eritreischen Nationaldienst als soziale Gruppe:
Jungen unverheirateten und kinderlosen Frauen droht während des Nationaldienstes in Eritrea geschlechtsspezifische Verfolgung.
(Leitsätze der Redaktion)
[...] Nach den Erkenntnissen des Gerichts ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Einberufung zum Nationaldienst sexueller Gewalt ausgesetzt wäre.
Hierzu hat das Verwaltungsgericht Schwerin (Urteil vom 8. Dezember 2017 - 15 A 1278/17 As SN -, juris) wie folgt ausgeführt: "Frauen werden nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen im Nationaldienst häufig durch (militärische) Vorgesetzte sexuell missbraucht (vgl. bereits VG Schwerin: Urteile vom 3. Februar 2017 - 15 A 3692/16 As SN -, Umdruck, S. 10 und - 15 A 3443/16 As SN Umdruck, S. 10 m.w.N.) So schreibt die Schweizerische Flüchtlingshilfe unter Hinweis auf weitere Quellen in der bereits zitierten neueren Darstellung zum eritreischen Nationaldienst, dass sexuelle Gewalt und Straflosigkeit sehr verbreitet sei:
"Human Rights Watch, Amnesty International und US Department of State berichten übereinstimmend, dass Frauen im Rahmen des Nationaldienstes einem massiven Risiko von sexueller Gewalt durch Befehlshaber und Kameraden ausgesetzt sind. Die UN-Untersuchungskommission zu Eritrea berichtet von einer großen Anzahl von Fällen von sexueller Gewalt gegen Frauen in den Militärcamps, in der Armee und in Haft. Ein ehemaliger Ausbilder sagte gegenüber der Kommission, dass sexuelle Gewalt in Sawa geradezu "normal" sei. Frauen im Nationaldienst müssen für Kommandanten kochen und putzen und würden dabei oft Opfer von sexuellem Missbrauch. Denjenigen, die sich der sexuellen Ausbeutung verweigern, drohen laut der UN-Untersuchungskommission mentale und körperliche Misshandlungen, die teilweise Folter gleichkomme. Die Sonderberichterstatterin zu Eritrea erwähnt in diesem Zusammenhang auch schlechte Behandlung, psychologische Gewalt oder Verweigerung von Urlaub für Familienbesuche. Die Konsequenzen der sexuellen Gewalt sind für die Frauen verheerend: Sie leiden unter langanhaltender physischen und psychischen Konsequenzen. Diejenigen, die ungewollt schwanger werden, werden von ihren Familien stigmatisiert und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, während die Täter angesichts fehlender Beschwerdeverfahren meist straflos davon kommen. Einige Frauen versuchen, ungewollte Kinder mit traditionellen Methoden abzutreiben."
Im amnesty-Report 2017 (Berichtszeitraum 2016) wird insbesondere zu den Zuständen im Schüler-Ausbildungslager Sawa ausgeführt: "Die Schüler unterlagen militärischer Disziplin und erhielten ein Waffentraining. Von den etwa 14000 Personen, deren Ausbildung in Sawa im Juli 2016 endete, waren 48% Frauen. Für diese waren die Bedingungen besonders hart: Sie waren u. a. sexueller Versklavung und Folter sowie anderen Formen sexueller Übergriffe ausgesetzt."
Auch die EASO berichtet über sexuelle Gewalt durch Vorgesetzte gegen Frauen im Nationaldienst. Wer sich weigere, könne bestraft werden (vgl. EASO, Länderfokus Eritrea, S. 34 und 39). Das Auswärtigen Amt hat ebenfalls ausgeführt, dass die "Commission of Inquiry der VN [...] von Berichten über sexuelle Nötigung und Gewalt bis hin zu Vergewaltigung gegenüber weiblichen Rekruten [spricht]. Nach Aussagen von Betroffenen wurden weibliche Rekruten unter Androhung eines verschärften Militärdienstes oder der Aussetzung von Heimatreisen zum Geschlechtsverkehr mit Vorgesetzten gezwungen. Eine Weigerung führte in manchen Fällen zu Internierung, Misshandlungen und Folter, z.B. Nahrungsentzug oder dem Aussetzen extremer Hitze." (vgl. auch: auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 7. März 2018 - l a K 4738/17.A -, S. 13 f. des Urteilabdrucks, n.V. und VG Kassel, Urteil vom 24. Februar 2010 - 1 K 1217/09.KS.A -, S.1 1 des Urteilabdrucks, n.V.).
3. Die vorstehend dargestellten Verfolgungshandlungen drohen der Klägerin auch wegen eines Verfolgungsgrundes im Sinne des § 3b AsylG, nämlich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der der Frauen im Nationaldienst (vgl. § 3b Absatz 1 Nr. 4 AsylG) (vgl. auch VG Schwerin, Urteil vom 8. Dezember 2017 - 15 A 1278/17 As SN -, juris; VG Kassel, Urteil vom 24. Februar 2010 - 1 K 1217/09.KS.A -, S. 12 des Urteilabdrucks, n.V.; a.A. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 7. März 2018 - la K 4738/17.A -, S. 14 des Urteilabdrucks). Eine Gruppe gilt nach § 3b Absatz 1 Nr. 4 AsylG insbesondere dann als eine "bestimmte soziale Gruppe", wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zudem muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Diese Abgrenzbarkeit muss schließlich schon vor der in Rede stehenden Verfolgung bestehen. Überdies kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Nach diesen Maßstäben stellt die Gruppe der Frauen im Nationaldienst eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne der Vorschrift dar.
Die der Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea drohenden Verfolgungshandlungen in Form sexueller Gewalt im Nationaldienst knüpfen auch an das Verfolgungsmerkmal der Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen im Nationaldienst an, drohen also "wegen" jener Zugehörigkeit. Ob die Verfolgung "wegen" eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, 315-353, juris, Rn. 44). Dabei kann der Zusammenhang zwischen Verfolgung und Verfolgungsgründen einerseits durch die Zielrichtung der Verfolgung hergestellt werden. Andererseits kann auch an die Schutzakteure angeknüpft werden. Denn bei der Frage, ob die Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung abzuwenden, können für die Schutzversagung ebenfalls Verfolgungsgründe maßgebend sein. Für die Verknüpfung genügt bereits ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung. Insofern muss das Geschlecht zwar ein maßgebender beitragender Faktor für die Verfolgung sein, aber nicht als einziger oder überwiegender Grund nachgewiesen werden.
In denjenigen Fällen, in denen Handlungen i.S.d. § 3a Absatz 2 Nr. 1 bis 6 AsylG auf einem der in § 3b typischerweise genannten Gründe, z.B. zur Unterdrückung der Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe vorgenommen werden, wird mit der Feststellung einer Verfolgungshandlung der Verfolgungsgrund zudem indiziert.
Bei Zugrundelegung dieser Grundsätze liegt die erforderliche Anknüpfung der sexuellen Gewalt die Frauen nach den obigen Ausführungen im Nationaldienst droht, an den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vor. Durch die Ausübung sexueller Gewalt wird jedenfalls auch die besondere Schutzlosigkeit von Frauen ausgenutzt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Frauen während des Nationaldienstes sexueller Gewalt durch Vorgesetzte und sonstige Militärangehörige aufgrund der - noch darzustellenden - fehlenden Bereitschaft, Gewalt gegen Frauen anzuerkennen, wenn die Straftat von Angehörigen staatlicher Institutionen ausgeht, besonders schutzlos ausgeliefert sind. Des Weiteren kommt in Eritrea hinzu, dass Opfer sexualisierter Gewalt aufgrund der kulturellen Gewichtung von Jungfräulichkeit, Keuschheit und Monogamie Angst haben, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Dass die Ausübung sexueller Gewalt "aus Anlass des Nationaldienstes stattfindet, weil der Nationaldienst auch für diese Form der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung einen entsprechenden Raum bietet, der sich bei Rekruten unterschiedlichen Geschlechts z.B. auch in mangelnder Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser, Folter, unmenschlicher Arbeitsbedingungen oder willkürlichen körperlichen Strafen bei Vermutung geringster Vergehen ausdrücken kann", (vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 7. März 2018 - l a K 4738/17.A -, S. 14 des Urteilabdrucks, n.V)., ist nach den vorstehend dargestellten Grundsätzen unerheblich. Entscheidend ist vielmehr, dass Frauen aufgrund ihrer besonderen Schutzlosigkeit während des Nationaldienstes zusätzlich zu anderen erniedrigenden Behandlungen massiven geschlechtsspezifischen Übergriffen ausgesetzt sind. [...]