VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 24.04.2002 - A 10 K 10307/98 - asyl.net: M2744
https://www.asyl.net/rsdb/M2744
Leitsatz:

Verfolgung durch Taliban in Afghanistan auf absehbare Zeit auszuschließen; keine extreme allgemeine Gefährdungslage durch Minen, Blindgänger oder Versorgungslage.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Paschtunen, Politische Entwicklung, Taliban, Machtwechsel, Übergangsregierung, Verfolgungszusammenhang, Beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Gefahrenbegriff, Allgemeine Gefahr, Sicherheitslage, Versorgungslage, Existenzminimum, Hilfsorganisationen, Extreme Gefahrenlage
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

 

Die zulässige Klage ist unbegründet, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, weil ihm ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht zusteht.

Auch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG liegen nicht vor und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG sind nicht gegeben.

Der Kläger hat bei seiner Anhörung beim Bundesamt vorgetragen, und auch in der mündlichen Verhandlung erneut bekräftigt, dass er Befürchtungen gehabt habe und noch habe, von den Taliban politisch verfolgt zu werden. Es ist allgemein kundig, dass die politischen und militärischen Ereignisse seit dem 11. 09. 2001 in Afghanistan eine drastische Veränderung der Verhältnisse mit sich gebracht haben. Diese haben, ohne das dies einer Vertiefung bedürfte, offensichtlich einen solchen Stand erreicht, dass eine (auch nur quasi-) staatliche Verfolgung durch die Taliban für die aktuelle Lage nicht mehr angenommen werden kann und auch auf absehbare Zeit auszuschließen ist (so auch OVG Münster, B. v. 01.02.2002 - 20 A 4450/00.A - und Hess. VGH, B. v. 29.01.2002 - 8 UZ 2908/00.A - <Juris>). Es fehlen greifbare Anhaltspunkte für ein Wiederaufleben der früheren Stellung der Taliban in der Auseinandersetzung um die Macht im Land. Die Gegner der Taliban haben diese militärisch entscheidend besiegt, die Herrschaftsgewalt auch in deren früherem Machtbereich bis auf wenige, örtlich begrenzte Widerstandsgebiete und Verstecke fest inne und in der von ihnen eingenommenen Hauptstadt Kabul mit internationaler Anerkennung und Unterstützung eine Übergangsregierung unter Karzai gebildet, über deren Fortbestand oder Ersetzung in absehbarer Zeit eine sogenannte Loya Jirga entscheiden soll.

Dass der Kläger von der gegenwärtigen Interimsregierung politische Verfolgung zu erwarten hätte, kann ebenfalls nicht angenommen werden. Auf der Grundlage der eigenen klägerischen Angaben ist dafür nichts ersichtlich. Auch für diese Beurteilung kommt es nicht darauf an, ob eine Vorverfolgung durch die Taliban anzunehmen ist. Das würde im Bezug auf die Interimsregierung nicht etwa zum sogenannten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab führen. Denn eine etwaige Verfolgung durch die derzeitige Regierung würde in Folge der grundlegenden Veränderungen, nicht die hierfür erforderlicheVerknüpfung zur Vorverfolgung durch die Taliban aufweisen (dazu BVerwG, B. v. 21.01.2000 - 9 B 533/99 <Juris>, B. v. 11.03.1998 - 9 B 757/97 - <Juris> und Urt. v. 18. 02. 1997, BVerwGE 104, S. 97), selbst wenn sie auf dasselbe asylerhebliche Merkmal gerichtet sein sollte. Deshalb ist für die Annahme politischer Verfolgung durch das gegenwärtige afghanische Regime beachtliche Wahrscheinlichkeit erforderlich. Dafür ist weder etwas vorgetragen noch ersichtlich.

Auch ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG kann nicht festgestellt werden. Individuelle erhebliche Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG sind vorliegend weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich. Es geht vielmehr um die Frage, ob die allgemeinen in Afghanistan drohenden Gefahren im Hinblick auf Minen, die Sicherheitslage und die Versorgungslage - und seien sie auch durch individuelle Umstände verstärkt - die Annahme einer extremen Gefahrenlage im bezeichneten Sinn rechtfertigen. Dies ist nicht der Fall.

Die Gefahr, Opfer einer der zahlreichen in afghanischem Boden liegenden Minen zu werden, besteht nicht mit der erforderlichen gesteigerten Wahrscheinlichkeit. Gleiches gilt für die Prognose, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit Rückkehrer Opfer der unzureichenden und noch immer instabilen Sicherheitslage werden können. Zumindest in der Region in und um Kabul sorgt die internationale Schutztruppe ISFA in Zusammenarbeit mit afghanischen Kräften für jedenfalls so weit reichende Sicherheit, dass die Annahme, jeder Rückkehrer werde "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert," ausgeschlossen erscheint.

Nichts anderes gilt schließlich auch für die im Vordergrund der Befürchtungen der meisten Rückkehrer und auch Beobachter stehende Versorgungslage, die noch in jüngerer Zeit Anlass für verschiedene Verwaltungsgerichte war, betroffenen afghanischen Staatsangehörigen den Schutz von § 53 Abs. 6 AuslG zuzuerkennen (vgl. z. B. OVG Hamburg, Urt. v. 23. 02. 2001, InfAuslR 2001, S. 373, und Urt. v. 06.07.2001 - 1 Bf 549/98.A -). Eine vergleichbare Zuspitzung der Versorgungslage lässt sich zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) feststellen. Es ergibt sich aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln, ist aber auch allgemeinkundig, dass in Afghanistan zahlreiche supranationale, staatliche und auch private Hilfsorganisationen die Versorgung der notleidenden Bevölkerung einschließlich Rückkehrern zu sichern versuchen. Durch die größte internationale Hilfsaktion seit 40 Jahren, vornehmlich durch das Nahrungsmittelprogramm der Vereinten Nationen (World Food Programm/WFP) mit Verteilung durch private Hilfsorganisationen, ist es (entgegen den Erwartungen, s. OVG Hamburg, Urt. v. 23. 02. 2001, aaO) gelungen, trotz der allgemein bekannten Dürrekatastrophe der letzten Jahre eine Hungersnot in Afghanistan abzuwenden, wobei sich zuletzt die Hilfslieferungen von Monat zu Monat verdoppelt haben (September 2001 11.000 Tonnen, Oktober 27.000 Tonnen, November 55.000 Tonnen, Dezember 116.000 Tonnen, s. dpa-Meldung vom 04.01.2002). Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich die Rückkehrerzahlen anders (höher) entwickelt haben, als UNHCR sie prognostiziert hatte (vgl. Frankfurter Rundschau v. 12. 04. 2002 ersichtlich auf der Grundlage der UNHCR-Presseerklärung v. 03.04.2002). Insgesamt wird die Zahl der afghanischen Flüchtlinge auf über 1, 5 Millionen im Iran, auf ca. 2 Millionen in Pakistan und auf einige Hunderttausend in der übrigen Welt geschätzt (UNHCR-Presseerklärung vom 03.04.2002), davon 72.000 in Deutschland (Frankfurter Rundschau v. 12.03.2002). Bei der zu treffenden Prognose muss in den Blick genommen werden, dass sich - und seien es erzwungene - Rückkehrerströme gravierend auf die Versorgungslage auszuwirken vermögen. Gleichwohl ist nicht zu erwarten, dass die Versorgung der Rückkehrer und allgemein der notleidenden Bevölkerung Afghanistans durch internationale Hilfsorganisationen derart zusammenbrechen wird, dass ein Rückkehrer im Sinn der oben angegebenen Rechtsprechung "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert" würde. Weiterhin kann auch nicht unterstellt werden, dass die genannten Flüchtlingsmassen binnen weniger Wochen oder Monate insgesamt geballt und ungeordnet zurückkehren, was die Möglichkeiten der Hilfsorganisationen letztlich wohl doch überfordern würde.