VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 08.05.2019 - 31 K 391.17 A - Asylmagazin 10-11/2019, S. 370 - asyl.net: M27466
https://www.asyl.net/rsdb/M27466
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG für ältere Frau mit Herzinsuffizienz aus der Ukraine:

1. Erfordert eine Erkrankung kontinuierliche Therapie und Überwachung, kommt es nicht darauf an, ob die Erkrankung grundsätzlich im Zielstaat behandelbar ist, sondern vielmehr darauf, ob eine unmittelbare Fortsetzung der Therapie gewährleistet ist.

2. In der Ukraine ist davon auszugehen, dass Binnenvertriebene bzw. aus dem Ausland Rückkehrende erschwerten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Jedenfalls erfolgt ein Zugang erst nach Überprüfung der Status und damit mit einer deutlichen Verzögerung.

3. Rückkehrende können hinsichtlich der Finanzierung einer medizinische Behandlung nicht auf mögliche Rückkehrhilfen verwiesen werden, da auf diese zum einen kein Rechtsanspruch besteht und zum anderen die Entscheidung über die Gewährung durch andere Stellen als das BAMF erfolgt. Zudem erfolgt die Auszahlung nicht direkt nach Rückkehr, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ukraine, medizinische Versorgung, Binnenflüchtlinge, Binnenvertriebene, ältere Person, Abschiebungsverbot, Rückkehrhilfen, REAG, GARP, Anspruch, Herzinsuffizienz, Abschiebungsverbot, Krankheit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom ... 2017 ist im angefochtenen Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher insoweit in ihren Rechten. Die Klägerin hat gern. § 31 Abs. 3 S. 1 AsylG einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots durch die Beklagte, so dass sie durch die Ablehnung sowie die Abschiebungsandrohung in ihren Rechten verletzt wird (§ 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 60 Abs. 7 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich die durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG n.F. in Festschreibung der bisherigen Grundsätze der Rechtsprechung). [...]

Nach diesen Maßstäben liegt für die Klägerin - mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit - bei Rückkehr in die Ukraine eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen vor.

Nach dem Attest des die Klägerin sei drei Jahren behandelten Facharztes für Allgemeinmedizin vom ... 2019 besteht bei der Klägerin eine Herzinsuffizienz (derzeit NYHA-Stadium 2), die sich weiter verschlechtert hat und aktuell durch die wöchentlich bzw. monatlich erfolgende Therapie und Therapieüberwachung relativ stabil ist. Eine solche kontinuierliche Therapie und Überwachung der Therapie müsse gewährleistet sein, da ansonsten eine unmittelbare Verschlechterung bis hin zur vitalen Gefährdung drohe. Ebenso sei eine kontinuierliche Behandlung des ausgeprägten Bluthochdrucks wegen der Gefahr einer Dekompensation der Herzinsuffizienz zu gewährleisten. Ferner ist eine kontinuierliche Substitutionstherapie nach erfolgter Schilddrüsenoperation erforderlich. Das o.g. Attest reiht sich ein in die vorherigen Atteste, beispielsweise das Attest vom ... 2017, und wird zudem durch die glaubhaften Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung bestätigt.

Ob die lebensbedrohliche Herzerkrankung der Klägerin grundsätzlich in der Ukraine behandelbar ist, bedarf entgegen der Ansicht der Beklagten vorliegend keiner Klärung. Die Erkrankung der Klägerin erfordert nämlich aufgrund der damit verbundenen Risiken eine kontinuierliche Therapie und Therapieüberwachung, das heißt eine Fortsetzung der hiesigen Behandlung unmittelbar nach ihrer Rückkehr in die Ukraine. Dies ist aus zwei Gründen für die Klägerin nicht gesichert, was mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einer lebensbedrohlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes führen würde.

Zum einen ist nicht sichergestellt, dass die Klägerin sofort nach ihrer Rückkehr Zugang zu der erforderlichen Behandlung erhält. Als Binnenvertriebene bzw. Rückkehrerin aus dem Ausland ist die Klägerin nämlich mit Schwierigkeiten konfrontiert, Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erhalten (BFA, Länderdokumentation vom 30. November 2017, S. 59; Auswärtiges Amt, Bericht vom 12. März 2018 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, Stand: Januar 2018, S. 19). Der Zugang erfolgt jedenfalls erst nach Überprüfung des Status und damit mit einer aus gesundheitlichen Gründen nicht hinnehmbaren Verzögerung.

Zum anderen ist der Zugang gerade der Klägerin zu einer solchen Behandlung durch eingeschränkte Finanzmittel der Klägerin in Frage gestellt. Grundsätzlich sind in der Ukraine etwaige erforderliche Medikamente selbst zu zahlen (siehe BFA, Anfragebeantwortung vom 16. Juni 2017, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe, SFHLänderanalyse vom 19. Juli 2017, S. 1). Hinzukommen Kosten für in der Praxis erforderlichen private Zuzahlungen zur Behandlung (BFA, Länderdokumentation vom 30. November 2017, S. 64f.; SFH-Länderanalyse vom 19. Juli 2017, S. 2; BFA, Anfragebeantwortung vom 16. Juni 2017, S. 6; Ukraine-Analysen Nr. 170 vom 15. Juni 2016, S. 16 ff.; siehe auch VG Oldenburg, Urteil vom 4. November 2002 - 1 A 1069/01 -, Orientierungssätze bei juris).

Dass die Klägerin diese Kosten alsbald nach ihrer Rückkehr selbst aufbringen können, ist nicht ersichtlich. Eine eigene Erwerbstätigkeit scheint angesichts ihres Alters und ihrer weiteren Erkrankungen ausgeschlossen. Neben ihrer Herzerkrankung leidet die 1940 geborene, d.h. fast achtzigjährige Klägerin an weiteren, teils altersbedingten Erkrankungen. [...] Als Binnenvertriebene ist die Klägerin ferner mit Schwierigkeiten konfrontiert, Zugang zu ihrer Rente zu erhalten (BFA, Länderdokumentation vom 30. November 2017, S. 59). Die Auszahlung erfolgt jedenfalls erst nach Überprüfung des Status und damit mit einer Verzögerung, die dazu führt, dass die Finanzierung der umgehend bei Rückkehr erforderlichen Behandlung nicht gesichert ist. Eine finanzielle Unterstützung durch Verwandte oder Familienangehörige in der Übergangszeit von ungewisser Dauer ist ebenfalls nicht gegeben. [...]

Auch der Verweis der Beklagten auf die möglichen Rückkehrhilfen verfängt nicht. Auf die Gewährung dieser Hilfen besteht kein Rechtsanspruch, zudem erfolgt die Entscheidung über die Gewährung durch anderen Stellen als das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Hinzukommt, dass die Reintegrationshilfe REAG/GARP nicht unmittelbar nach Rückkehr, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt gezahlt wird. [...]