Abgrenzung von eritreischer und äthiopischer Staatsangehörigkeit/subsidiärer Schutz wegen drohender Einziehung zum eritreischen Nationaldienst:
1. Personen, die bis zur Unabhängigkeit Eritreas 1993 auf dem Territorium des heutigen Eritrea gelebt haben und erst danach nach Äthiopien weitergewandert sind (einschließlich ihrer Nachkommen), besitzen die eritreische Staatsangehörigkeit.
2. Sie haben trotz eines möglicherweise langen Aufenthalts in Äthiopien Anspruch auf subsidiären Schutz, sofern sie im nationaldienstpflichtigen Alter sind. Grund dafür sind die unmenschlichen Bedingungen, unter denen der Nationaldienst in Eritrea abgeleistet wird.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Die Klägerin besitzt nach Überzeugung der Einzelrichterin allein die eritreische, nicht aber die äthiopische Staatsangehörigkeit. Die Frage, welche Staatsangehörigkeit eine Person innehat, bestimmt sich nach dem Staatsangehörigkeitsrecht des in Frage kommenden Staates, denn Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit werden grundsätzlich durch innerstaatliche Rechtsvorschriften geregelt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.01.2003 - A 9 S 397/00 -, juris Rn. 24). Dieses Recht hat das Gericht unter Ausnutzung aller ihm zugänglichen Erkenntnisquellen von Amts wegen zu ermitteln und in seinem systematischen Kontext und ggf. unter Einbeziehung der ausländischen Rechtsprechung zu erfassen. Im Rahmen der Prüfung der Staatsangehörigkeit findet dabei der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung Anwendung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Eine Beweisregel dergestalt, dass der Nachweis einer Staatsangehörigkeit nur durch Vorlage entsprechender Papiere des Staates geführt werden kann, existiert nicht. (vgl. VG Cottbus, Urt. v. 01.03.2019 - 6 K 272/17.A. -, juris Rn. 26). [...]
Diesen Vortrag vorausgesetzt geht die Einzelrichterin im Weiteren davon aus, dass die Klägerin [als] Tochter eritreischstämmiger Eltern mit ihrer Geburt am ... in ... zunächst die äthiopische Staatsangehörigkeit erworben hat. Denn zu diesem Zeitpunkt existierte der (völkerrechtlich anerkannte) Staat Eritrea noch nicht. Dieser entstand vielmehr erst mit seiner Unabhängigkeitserklärung vom 24.05.1993. Zuvor war das Gebiet des heutigen Eritrea seit 1962 Teil Äthiopiens (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Eritrea vom 22.03.2019, S. 8). Gemäß Art. 1 des seinerzeit geltenden äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 22.07.1930 war äthiopischer Staatsangehöriger, wer als Kind eines äthiopischen Vaters oder einer äthiopischen Mutter in Äthiopien oder außerhalb geboren wird (vgl. VG Cottbus, a.a.O. unter Nennung von Nachweisen). Da die Eltern der Klägerin nach ihrem Vortrag aus dem Gebiet des heutigen Eritrea stammten und das Gebiet vor dem 24.05.1993 zu Äthiopien gehörte, ist davon auszugehen, dass sie bei der Geburt der Klägerin äthiopische Staatsangehörige waren.
Die Klägerin hat mit der Unabhängigkeitserklärung Eritreas am 24.05.1993 und der völkerrechtlichen Anerkennung als souveräner Staat nach Maßgabe des eritreischen Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1992 die eritreische Staatsangehörigkeit erworben und zugleich unter Heranziehung des äthiopischen Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1930 die äthiopische Staatsangehörigkeit verloren.
Art. 2 StAG Eritrea 1992 regelt die Staatsangehörigkeit durch Geburt, also nach dem Abstammungsprinzip. Nach Art. 2 Abs. 1 StAG Eritrea 1992 ist jede Person eritreische Staatsangehörige durch Geburt, deren Vater oder Mutter eritreischer Herkunft ist. Auf den Geburtsort kommt es nicht an. Dies legt nahe, dass die Staatsangehörigkeit Eritreas kraft Gesetzes erworben wird, denn "ist" beschreibt einen Zustand, der hier in der Staatsangehörigkeit besteht, und nicht ein Anrecht auf den Erwerb dieser Staatsangehörigkeit. Eritreischer Herkunft ist nach Art. 2 Abs. 2 StAG Eritrea 1992, wer 1933 in Eritrea, d.h. auf dem Territorium des heutigen Eritreas, gelebt hat. Allerdings ist Art. 2 Abs. 1 StAG Eritrea 1992 so zu verstehen, dass nicht nur die Kinder von Personen, die 1933 dort gelebt haben, sondern auch noch deren Kinder, Enkel und Urenkel, also Abstammende dieser Personen durch Geburt eritreische Staatsangehörige sind. Aus Art. 2 Abs. 5 StAG Eritrea 1992 ergibt sich nichts Anderes (vgl. für alles Vorstehende: VG Hannover, Urt. v. 23.01.2016 - 3 A 6312/16 -, juris Rn. 32).
Nachdem glaubhaft ist, dass ihre [Eltern] aus Eritrea stammen und der übrige Vortrag ebenfalls eine Herkunft der Familie aus dem Gebiet des heutigen Eritrea nahelegt, geht die Einzelrichterin von einer eritreischen Abstammung ihrer Eltern im oben dargestellten Sinn aus. Darüber hinaus hat die Klägerin mit dem Erwerb der eritreischen Staatsangehörigkeit im Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung am 24.05.1993 gleichzeitig kraft Gesetzes die bis dahin innegehabte äthiopische Staatsangehörigkeit verloren. Dies ergibt sich aus Art. 11 a) des StAG Äthiopien 1930, wonach ein äthiopischer Staatsangehöriger die äthiopische Staatsangehörigkeit verliert, wenn er eine andere Staatsangehörigkeit erwirbt. Zur Begründung verweist die Einzelrichterin insoweit auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 23.01.2018 (a.a.O., Rn. 50-58; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 22.01.2014, Äthiopien/Eritrea: Umstrittene Herkunft; a.A. VG Cottbus, a.a.O.). [...]
Im vorliegenden Fall ist die Klägerin allerdings im Jahr 1993 als Säugling endgültig aus Eritrea ausgereist. Damit hat sie Eritrea im nicht dienstpflichtigen Alter verlassen, weshalb keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit i.S.v. § 3 AsylG besteht (vgl. VG Hannover, a.a.O., Rn. 63 ff.; VG Schwerin, Urt. v. 20.01.2017 - 15 A 3003/16 As SN -, juris; VG Hamburg, Beschl. v. 05.10.2016 - 4 A 3618/16 -, juris). Anhaltspunkte dafür, dass Personen, die Eritrea als Kind weit vor Eintritt in das geltende Dienstalter und ohne eigenes Zutun verlassen haben, als Deserteure oder Dienstverweigerer behandelt werden und ihnen deshalb bei einer Rückkehr Haft unter unzumutbaren Bedingungen droht, liegen nicht vor. [...]
Im Hinblick auf die Einberufung in den Nationalen Dienst Eritreas unter den bereits erläuterten Bedingungen ist davon auszugehen, dass den Betroffenen ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG droht. Bei dem eritreischen Nationalen Dienst handelt es sich um einen unbefristeten Arbeitsdienst unter menschenrechtsverachtenden Bedingungen, welcher als Zwangsarbeit und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu qualifizieren ist, im Gegensatz zu der Verfolgung wegen Desertion bzw. Dienstverweigerung jedoch alle dienstpflichtigen Eritreer unterschiedslos und ohne Anknüpfung an einen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe trifft. Die Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea führt dazu aus, dass obligatorischer Militär- bzw. Nationaldienst zwar nicht zwangsläufig eine Menschenrechtsverletzung sei, sich der eritreische Nationaldienst jedoch von dem Militärdienst anderer Staaten unterscheide durch die unbegrenzte und willkürliche Dauer, die die gesetzlich vorgesehene Dauer von 18 Monaten regelmäßig um mehr als ein Jahrzehnt überschreite, durch die Heranziehung der Dienstpflichtigen in Form von Zwangsarbeit für ein weites Spektrum an wirtschaftlichen Tätigkeiten und durch die Begehung von Vergewaltigungen und Folter in den Militärlagern sowie das Vorhandensein weiterer häufig unmenschlicher Bedingungen. In ihrem ausführlichen Bericht weist die Commission of Inquiry auf die äußerst schwierigen sanitären und gesundheitlichen Bedingungen sowie mangelnde Ausstattung mit Lebensmitteln und Wasser während des militärischen Teils des Nationaldienstes hin, auf harte und willkürliche körperliche Strafen und die Heranziehung zum Dienst bzw. Bestrafung wegen Dienstverweigerung trotz nachgewiesener Erkrankungen (UNHCR, Report of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea - A/HRC/32/47, Conclusions). Das Auswärtige Amt verweist in seinem Lagebericht auf Berichte über sexuelle Nötigung bis hin zu Vergewaltigung weiblicher Rekruten. Beischlaf werde durch Androhung der Verschärfung der Dienstbedingungen oder die Verweigerung von Heimreisen erzwungen, die Weigerung führe zu Internierung, Misshandlungen und Folter, z.B. Nahrungsentzug oder dem Aussetzen extremer Hitze (Lagebericht, a.a.O., S. 15; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 13.02.2018 Eritrea: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen; VG Hamburg, Beschl. v. 05.10.2016, a.a.O., Rn. 25).
Im Falle der im Jahr ... geborenen Klägerin ist nach den vorliegenden Erkenntnissen davon auszugehen, dass sie nachträglich in den Nationalen Dienst einberufen würde. Denn sollte sie unter Feststellung ihrer eritreischen Staatsangehörigkeit nach Eritrea abgeschoben werden, unterfiele sie wie jeder Erwachsene zwischen 18 und 50 Jahren grundsätzlich der Nationaldienstpflicht unter den oben dargelegten Bedingungen. [...]