VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 28.06.2019 - 1 K 1581/18. KS.A - asyl.net: M27485
https://www.asyl.net/rsdb/M27485
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 hinsichtlich Äthiopien für psychisch kranken, alleinstehenden Mann ohne Schulabschluss: 

Bei einer Person, die an einer schweren psychischen Erkrankung leidet, die sie dabei behindern würde, unter den in Äthiopien schwierigen Bedingungen einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, ist davon auszugehen, dass sie nicht in der Lage ist, ihr Existenzminimum sowie die Behandlungskosten zu sichern.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, Krankheit, psychische Erkrankung, Existenzminimum, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot, Mann,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

1) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen bestimmten anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. [...]

b) Die Verhältnisse in Äthiopien stellen sich gegenwärtig wie folgt dar:

Äthiopien ist bei etwa 92,7 Millionen Einwohnern mit einem jährlichen Brutto-National-Einkommen von 927,40 US-Dollar pro Kopf eines der ärmsten Länder der Welt, auch wenn das Wirtschaftswachstum in den letzten zehn Jahren wesentlich über dem regionalen und internationalen Durchschnitt lag. Ein signifikanter Teil der Bevölkerung lebt unter der absoluten Armutsgrenze (gemäß Weltbank-Daten vom Januar 2015 lebten im Jahr 2011 30,7 Prozent von weniger als 1,25 USD pro Tag, 2005 waren es noch 39,0 Prozent). [...]

Die Existenzbedingungen in Äthiopien sind für große Teile, insbesondere der Landbevölkerung äußerst hart und bei Ernteausfällen wie im Jahr 2016 potentiell lebensbedrohend. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in Äthiopien nicht in allen Landesteilen und zu jeder Zeit gesichert. [...]

Eine kostenlose medizinische Grundversorgung bietet Äthiopien nicht, für die Behandlung akuter Erkrankungen oder Verletzungen existiert eine medizinische Basisversorgung. [...]

Es ist in Äthiopien nach wie vor schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden; es gibt auch kein soziales Sicherungssystem. [...]

c) Eine einzelfallbezogene Betrachtung der persönlichen Situation des Klägers ergibt, dass ihm eine Rückkehr nach Äthiopien nach den oben näher erläuterten Grundsätzen nicht zugemutet werden kann.

Der Kläger hat lediglich sechs Jahre die Schule besucht und keinen Schulabschluss. In Äthiopien hat er zuletzt im ... seines mittlerweile verstorbenen Vaters gearbeitet. In Äthiopien hat er keine Verwandten mehr, die ihm für die Zeit nach seiner Rückkehr Unterstützung bieten können. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass er auf anderweitiges Vermögen zurückgreifen könnte.

Der Kläger leidet an einer schweren depressiven Episode mit Suizidalität (F32.3) und einer Anpassungsstörung mit depressiver Entwicklung (F43.2). Dies wird durch den Entlassungsbericht des Klinikums ... vom ... 2019 im durch § 60a Abs. 2c AufenthG geforderten Umfang belegt.

Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Kläger, der auch in der mündlichen Verhandlung einen sehr passiven Eindruck vermittelte, bei seiner Rückkehr nach Äthiopien nicht in der Lage sein würde, sich wenigstens eine grundlegende Existenz aufzubauen, die es ihm ermöglichen würde, die Behandlung seiner psychischen Krankheiten zu erlangen und wahrzunehmen. Dabei ist der Kläger gerade durch seine Krankheit darin behindert, sich unter den schwierigen Erwerbsbedingungen Äthiopiens ein Auskommen zu verschaffen und somit in seiner konkreten Person individuell betroffen; die Gefahr rührt nicht allein aus den schwierigen Lebensbedingungen in Äthiopien her.

Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass im Einzelfall des Klägers derzeit eine Rückkehr nach Äthiopien für ihn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit verbunden wäre, dass er alsbald nach seiner Rückkehr in eine existenzbedrohende Situation geriete. [...]