VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 24.07.2002 - 8 A 98/02 - asyl.net: M2750
https://www.asyl.net/rsdb/M2750
Leitsatz:

Keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer härteren Bestrafung wegen tschetschenischer Volkszugehörigkeit bei Desertion; inländische Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation für tschetschenischen Volkszugehörigen jedenfalls bei arbeitsfähigen Mann mit guter Ausbildung eröffnet; Ersatzzustellung gem. § 181 Abs. 2 ZPO im Wohnheim setzt nicht voraus, dass die Zustellperson persönlich das Zimmer des Empfängers aufsucht, sondern es genügt, wenn dies Beschäftigte des Wohnheimes auf Bitte der Zustellperson tun.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Militärangehörige, Desertion, Strafverfolgung, Politmalus, Haftbedingungen, Gruppenverfolgung, Menschenrechtsverletzungen, Interne Fluchtalternative, Freizügigkeit, Registrierung, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Versorgungslage, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Menschenrechtswidrige Behandlung, Verfahrensrecht, Klagefrist, Zulässigkeit, Fristversäumnis, Zustellung, Ersatzzustellung, Gemeinschaftsunterkünfte
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; AsylVfG § 10 Abs. 4; VwZG § 3 Abs. 3; ZPO § 181 Abs. 2
Auszüge:

Die Klage ist bereits unzulässig. Die Klagefrist des § 74 Abs. 1, 2. Fall AsylVfG i.V.m. § 36 Abs. 3 S. 1 AsylVfG ist duch die Klagerhebung am 4. März 2002 nicht eingehalten worden. Die einwöchige Klagefrist ist durch die Zustellung am 18.02.2002 in Lauf gesetzt worden, so dass die Frist gem. § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 187 ff. BGB am 25.02. 2002 ablief. Die Frist ist in Lauf gesetzt worden, weil die Zustellung am 18.02.2002 ordnungsgemäß erfolgt ist.

§ 181 Abs. 2 ZPO setzt für eine Ersatzzustellung voraus, dass weder der Empfänger, noch ein in seiner Wohnung lebender erwachsener Hausgenosse angetroffen wird. Dabei ist die Wohnung des Asylbewerbers nicht die Gemeinschaftsunterkunft als solche, sondern das Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft, das ihm zugewiesen wurde und in dem er schläft (BayVGH, Beschluss v. 22.04.2002 - Az. 15 ZB 01.30409). Den Voraussetzungen des § 181 Abs. 2 ZPO ist nicht genüge getan, wenn der Zusteller in einer Gemeinschaftsunterkunft nicht wenigstens den Versuch einer persönlichen Aushändigung des Schriftstücks an den Zustellungsempfänger unternimmt und es statt dessen der Aufsichtsperson direkt übergibt (BayVGH, Beschluss v. 22.04.2002 - Az. 15 ZB 01.30409; BayVGH, Besch. v. 30.10.1996 - 8 M 95.36894 -, NVwZ-RR 1997, 745; VG Freiburg, Beschl. v. 01.02.1993 - A 1 K 12098/92 -, NVwZ 1993, 808).

Ein Antreffen im Sinne der Vorschrift setzt zwar seinem Wortsinn nach voraus, dass der Zusteller durch Aufsuchen der Wohnung des Empfängers ein räumliches Näheverhältnis zu diesem zu begründen versucht, was grundsätzlich erfordert, dass sich der Zusteller zu dem Zimmer des Asylbewerbers begibt und sich dort über seine An- oder Abwesenheit vergewissert. Diesem Vorgehen kann es aber für den zu entscheidenden Fall gleichgestellt werden, dass der Zusteller die Nachforschung über die Anwesenheit des Empfängers gleichsam als Bote einer Person übertragen hat, an die - wie hier - eine Ersatzzustellung vorgenommen werden kann (vgl. noch weitergehend BFH, Urteil v. 25.01.1994 - VIII R 45/92, der auch eine Auskunft über die Abwesenheit des Zustellungsempfängers durch eine nicht für eine Ersatzzustellung in Betracht kommende Person für einen Antreffensversuch i.S.d. § 181 Abs. 2 ZPO ausreichen läßt). In einem solchen Fall ist dem Zweck des § 181 Abs. 2 ZPO, die Vereinfachung, Beschleunigung und Praktikabilität der Zustellung bei gleichzeitiger Wahrung des Interesses des Zustellungsempfängers an dem unverzüglichen Zugang des zuzustellenden Schriftstücks (Zöller-Stöber, ZPO, 22. Auflage, § 181, Rn. 1) hinreichend genüge getan. Die Heimleitung in einem Asylbewerberheim ist über die jeweilige Belegung der Zimmer und die Wohnsituation - anders als der Zusteller - bestens im Bilde und kann daher zuverlässig und schnell nachprüfen, ob der betreffende Empfänger anzutreffen ist, um das zuzustellende Schriftstück persönlich entgegenzunehmen.

Die Klage wäre im Übrigen - ihre Zulässigkeit unterstellt - mit dem Antrag zu 2) und 3) aber auch unbegründet. Es besteht kein Abschiebungshindernis gemäß § 51 Abs. 1 AuslG.

Der Kläger war in der Russischen Föderation keiner asylerheblichen, individuellen Verfolgung ausgesetzt; eine solche drohte ihm auch nicht.

Ob der Kläger im Jahre (...) tatsächlich als Fähnrich aus der russischen Armee in (...) desertierte, kann dahinstehen.

Eine Heranziehung zum Kriegsdienst und die Bestrafung wegen Desertion sind nur dann politische Verfolgung im Sinne des Artikel 16 a Abs. 1 GG (oder des § 51 Abs. 1 AuslG), wenn sie neben der Erfüllung einer allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht bzw. der Ahndung kriminellen Unrechts auch darauf gerichtet sind, den Betroffenen wegen eines asylerheblichen Persönlichkeitsmerkmals zu treffen (vgl. BVerwG, Urt. vom 24.11.1992, DVBI. 1993, 325 = InfAuslR 1993, 154; BVerfG, Beschl. vom 11.12.1985, BVerfGE 71, 276, 294). Davon ist in der Russischen Föderation nicht auszugehen. Die Wehrstrafgesetze knüpfen nicht an asylrechtserhebliche Merkmale an, sondern gelten für alle Bürger der Russischen Föderation. Gemäß Artikel 338 StGB wird Desertion mit einer Höchststrafe von sieben Jahren Freiheitsentzug geahndet, wobei diese Regelung rückwirkende Kraft entfaltet, wenn sie für den Beschuldigten günstiger ist. Artikel 337 StGB sieht eine Ausnahme von der strafrechtlichen Ahndung vor, wenn die Desertion Folge des Zusammentreffens schwerer Umstände ist.

Eine Ausnahme ist für den Kläger auch nicht deswegen gegeben, weil er wegen seiner tschetschenischen Volkszugehörigkeit mit einer härteren Bestrafung im Sinne eines "Politmalus" rechnen müsste.

Der Kläger war bei Verlassen der Russischen Föderation auch keiner landesweiten Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger ausgesetzt.

Letztlich kann die Entscheidung, ob eine Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien tatsächlich gegeben ist, dahinstehen, da jedenfalls dem Kläger in der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.

Es bestehen verlässliche Auskünfte über Zuzugserschwerungen im Wesentlichen nur für Moskau, St. Petersburg und andere russische Großstädte im Westen. Für andere - vielleicht ländliche und wirtschaftlich weniger interessante - Gebiete gibt es keine genauen Auskünfte. Insoweit berichtet UNHCR (Stellungnahme vom Januar 2002) neben den Zuzugsstopps für Moskau und andere Großstädte nur über bestehende Hemmnisse in einigen nordkaukasischen Republiken. Es ist also überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger seine Registrierung in einem anderen Gebiet der Russischen Föderation erreichen könnte.

Soweit der Kläger vorträgt, er könne sich aufgrund seiner Desertion ohnehin nicht registrieren lassen, so ist ihm auch zuzumuten, ohne Registrierung seinen faktischen Wohnsitz in anderen Teilen der Russischen Föderation zu nehmen. Eine effektive und dauerhafte Kontrolle ist - zumal in Moskau, wo hundert Tausende von Menschen unterschiedlicher Volkszugehörigkeit ohne amtliche Wohnanmeldung leben - kaum möglich (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stuttgart vom 30.06.2000). Gegen die Annahme, eine Wohnsitznahme in der Russischen Föderation sei mit oder ohne amtliche Registrierung de facto nicht möglich, spricht auch die Tatsache, dass derzeit etwa zwei Drittel aller Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens wohnen.

Der Kläger hätte in anderen Teilen der Russischen Föderation auch nicht mit asylerheblichen Verfolgungen zu rechnen. Insoweit teilt die Kammer die pauschale Einschätzung von amnesty international, es könne für Personen kaukasischer Abstammung generell nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass diese auch in anderen Teilen der Russischen Föderation Opfer von polizeilicher Willkür, Folter und Mishandlung werden, schon angesichts der enormen Größe der Russischen Föderation nicht (vgl. ai-Stellungnahme vom 08.10.2001).

Der Kläger gehört auch nicht zu einer Personengruppe, die einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt wäre und für die die Frage der Fluchtalternative daher möglicherweise anders zu entscheiden ist.

Weder hat er sich in der Tschetschenienfrage auf Seiten der Tschetschenen politisch engagiert, noch war er auf tschetschenischer Seite im Kriegseinsatz. Vielmehr hat der Kläger in seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge selbst vorgetragen, er halte den Krieg für sinnlos und gelte deswegen bei den Tschetschenen als Sympathisant der Russen.

Auch drohen dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sonstige Nachteile. Es ist nicht zu befürchten, dass er auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum führen muss, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt.

Zwar weisen das Auswärtige Amt in seinem ad hoc-Bericht vom 07.05.2002, amnesty international in seiner Stellungnahme vom 08.10.2001 und die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte in ihrer Antwort auf die Anfrage des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 22.10.2001 darauf hin, dass die Lage in Inguschetien äußerst schlecht und das Überleben dort oft kräftezehrend sei.

Inguschetien selbst und der Russische Immigrationsdienst seien mit der Versorgung der Bevölkerung überfordert (ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2002). UNHCR spricht sich entschieden dagegen aus, Inguschetien als Fluchtalternative anzuerkennen (UNHCR-Stellungnahme vom Januar 2002).

Dem Kläger kann jedoch zugemutet werden, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation niederzulassen und dort ein - wenn auch sehr bescheidenes Auskommen - zu finden.

Der Kläger kann sich auch nicht auf ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1 und Abs. 4 Ausländergesetz i.V.m. Artikel 3 EMRK berufen. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass er bei einer Rückkehr nach Russland gefoltert oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe ausgesetzt werden wird.

Soweit das Auswärtige Amt in seinen Lageberichten (vgl. z.B. Lagebericht vom 28.08.2001) die äußerst problematische Menschenrechtslage in der Armee anprangert, in der ein Klima von Gewalt und Drangsalierung durch Vorgesetzte und Kameraden herrsche, so kann dies nicht zu einem Abschiebungshindernis zu Gunsten des Klägers führen. Es ist nämlich nicht wahrscheinlich, dass er nach seiner Rückkehr in die Russische Föderation erneut zum Wehrdienst eingezogen werden wird.

Soweit sich der Kläger auf eine mögliche Bestrafung wegen seiner vorgetragenen Desertion beruft, kann auch dies nicht zu einem Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1 und Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK führen. Eine Bestrafung und eine Inhaftierung in russischen Gefängnissen, Arbeitslagem und Strafbataillonen kann nicht zu einem Abschiebungshindernis führen. Zwar werden die Bedingungen im russischen Strafvollzug als allgemein alarmierend bezeichnet. Die russischen Gefängnisse entsprechen in der Regel nicht europäischem Mindeststandard; sie sind meist überbelegt, die Ernährung ist schlecht und die medizinische Versorgung unzureichend (Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Förderation vom 28.08.2001 und vom 22.05.2000). Zugleich wird aber betont, dass die Haftbedingungen jeden Häftling gleichermaßen treffen und in der allgemeinen desolaten finanziellen Situation des Strafvollzugs begründet liegen. Eine gezielte unmenschliche Behandlung gegenüber einzelnen Gefangenen oder bestimmten Gruppen von Gefangenen ist nicht zu erkennen.