VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 13.06.2019 - 9 L 199.19 A - asyl.net: M27518
https://www.asyl.net/rsdb/M27518
Leitsatz:

Keine Verlängerung der Überstellungsfrist trotz Verstoß gegen "Hausarrestverfügung", da diese nur in deutscher Sprache ausgehändigt wurde:

Eine Person, die sich entgegen einer "Hausarrestverfügung" der Ausländerbehörde nicht in ihrem Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft aufhält, ist nicht als flüchtig anzusehen, wenn sie nicht zuvor über die ihr obliegenden Pflichten ordnungsgemäß in einer Sprache, die sie versteht oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie versteht, unterrichtet wurde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Verlängerung, flüchtig, Belehrung, Übersetzung, Aufenthaltsort, Wechsel des Aufenthaltsorts, Hausarrest, Stubenarrest, Ordnungsverfügung,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 46, AufenthG § 46 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Europäische Gerichtshof hat im Urteil vom 19. März 2019 (a.a.O. juris Rn. 61 ff.) zur Verlängerung der sechsmonatigen Frist Folgendes ausgeführt:

"Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, auf die die zuständigen Behörden beim Nachweis der Absichten der betreffenden Person stoßen können, könnte die Verpflichtung der Behörden zur Erbringung dieses Nachweises es Personen, die internationalen Schutz beantragen und nicht an den Mitgliedstaat überstellt werden möchten, der nach der Dublin-III-VO für die Prüfung ihres Antrags zuständig ist. ermöglichen, einen Übergang der Zuständigkeit für diese Prüfung gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung auf den ersuchenden Mitgliedstaat zu bewirken, indem sie sich bis zum Ablauf der sechsmonatigen Frist den Behörden dieses Mitgliedstaats entziehen.

Um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems und die Verwirklichung seiner Ziele zu gewährleisten, ist daher davon auszugehen, dass in dem Fall, in dem die Überstellung der betreffenden Person nicht durchgeführt werden kann, weil sie die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über ihre Abwesenheit zu informieren, diese Behörden unter der Voraussetzung, dass die Person ordnungsgemäß über die ihr insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, annehmen dürfen, dass sie beabsichtigte, sich ihnen zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln.

In diesem Kontext ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten - wie die Bundesrepublik Deutschland es offenbar tatsächlich getan hat - nach Art. 7 Abs. 2 bis 4 der Aufnahmerichtlinie die Möglichkeit der Wahl des Aufenthaltsorts, die Asylbewerbern eröffnet ist, beschränken können und von ihnen verlangen dürfen, dass sie zuvor eine behördliche Erlaubnis zum Verlassen dieses Ortes einholen müssen. Nach Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie schreiben die Mitgliedstaaten ferner den Antragstellern vor, den zuständigen Behörden ihre aktuelle Adresse und schnellstmöglich etwaige Adressenänderungen mitzuteilen.

Allerdings müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 5 der Aufnahmerichtlinie die Antragsteller über diese Pflichten unterrichten. Einem Antragsteller kann nämlich nicht zum Vorwurf gemacht werden, die ihm zugewiesene Wohnung verlassen zu haben, ohne die zuständigen Behörden darüber informiert zu haben und gegebenenfalls ohne bei ihnen eine vorherige Erlaubnis eingeholt zu haben, wenn der Antragsteller über diese Pflichten nicht unterrichtet worden ist. Das vorlegende Gericht hat im vorliegenden Fall zu prüfen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens tatsächlich über diese Pflichten unterrichtet worden war.

Da zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass es stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Antragsteller den zuständigen Behörden seine Abwesenheit nicht mitgeteilt hat, muss ihm die Möglichkeit des Nachweises erhalten bleiben, dass er nicht beabsichtigte, sich den Behörden zu entziehen."

Nach diesen Maßstäben war der Antragsteller nicht flüchtig, als er im Rahmen der beabsichtigten Abschiebung am 7. Mai 2019 um 1.00 Uhr nachts nicht in seinem Zimmer in der Unterkunft in der ... in ... Berlin angetroffen werden konnte. Zwar war der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt staatlichem Vollstreckungszugriff entzogen, da er sich nicht am Ort des versuchten Zugriffs, des Zimmers seiner Unterkunft aufhielt, sondern nach seinem Vortrag bei Freunden (in der Unterkunft) zum Essen war. Die Verhinderung des Überstellungszugriffs war vom Antragsteller aber nicht zu vertreten, da er nicht zuvor über die ihn insoweit obliegenden Pflichten - der Anwesenheit in seinem Zimmer bzw. das Hinterlassen einer schriftlichen Nachricht unter Angabe des Aufenthaltsortes z.B. an der Zimmertür - ordnungsgemäß in einer Sprache, die er versteht oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass er sie versteht. unterrichtet wurde (Art. 5 Aufnahmerichtlinie, Art. 12 Abs. 1 Buchst. a) Asylverfahrensrichtlinie, vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 a.a.O. juris Rn. 64). Die Ordnungsverfügung der Berliner Ausländerbehörde vom 11. März 2019, wonach er u.a. verpflichtet wurde, der Ausländerbehörde Berlin anzuzeigen, wenn er beabsichtigt, im Zeitraum von montags bis freitags in der Zeit von 00.00 Uhr und 06.00 Uhr seinen Aufenthalt außerhalb seiner Wohnanschrift bzw. seines ihm zugewiesenen Zimmers zu nehmen, ist dem Antragsteller ausschließlich in deutscher Sprache bekannt gegeben worden. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass dem Antragsteller der Inhalt der Ordnungsverfügung hinreichend klar war. Unwiderlegt durch die Antragsgegnerin trägt er insoweit vor, dass er die Verfügung nicht verstanden habe und Mitbewohner seiner Unterkunft ihm lediglich erklärt hätten, dass er dort jede Nacht schlafen solle, was er sowieso tue, wie dies durch die beiden bereits zuvor durchgeführten erfolglosen Abschiebungsversuche im März und April 2019 belegt sei. Auch sonst lässt sich den Akten nicht entnehmen, dass Dritte oder sonstige Rechtsberater im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Buchst. f) Asylverfahrensrichtlinie ihm den Inhalt der Ordnungsverfügung erläutert oder übersetzt haben könnten (vgl. hierzu Beschluss des Einzelrichters vom 11 Juni 2019 - VG 9 L 154.19 A -). Auch aus der Tatsache, dass der Antragsteller im Klageverfahren und im hiesigen Antragsverfahren offensichtlich Unterstützung durch Rechtsberater der Arbeiterwohlfahrt erhalten hat, lässt nicht hinreichend sicher den Schluss zu, dass der Antragsteller sich auch den Inhalt des Bescheides der Berliner Ausländerbehörde vom 11. März 2019 von diesen oder einem Dritten hat erläutern lassen. Dagegen spricht jedenfalls, dass der Antragsteller den Bescheid hat bestandskräftig werden lassen, während er zeitnah nach Erhalt des Bescheides vom 11. Oktober 2018 Klage erheben und einen vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzantrag stellen konnte, sowie nach Mitteilung über die Verlängerung der Überstellungsfrist den hiesigen Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO offensichtlich mit Unterstützung von Mitarbeitern der Arbeiterwohlfahrt (AWO-Beratungsbüro) zu stellen in der Lage war. [...]