VG Gießen

Merkliste
Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 02.08.2019 - 2 K 2175/16.GI.A - asyl.net: M27548
https://www.asyl.net/rsdb/M27548
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung bei Wehrdienstentziehung durch Ausreise:

Schutzsuchenden droht wegen der Entziehung vom Wehrdienst bei Rückkehr nach Syrien keine Verfolgung wegen unterstellter oppositioneller Haltung. Dies gilt auch, wenn Betroffene aus einer sog. "regierungsfeindlichen Zone" stammen.

(Leitsätze der Redaktion; ausdrücklich entgegen der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung des VGH Hessen, Urteil vom 26.07.2018 - 3 A 403/18.A - asyl.net: M26505; Urteil vom 06.06.2017 - 3 A 3040/16.A - asyl.net: M25340; sich anschließend an: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.03.2019 - A 4 S 335/19 - Asylmagazin 5/2019, S. 181 ff. - asyl.net: M27123; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.10.2018 - A 3 S 791/18 - Asylmagazin 1-2/2019, S. 26 ff. - asyl.net: M26715; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.02.2019 - 3 B 27.17 - asyl.net: M27221)

Schlagwörter: Syrien, Aufstockungsklage, Upgrade-Klage, Militärdienst, Kriegsverbrechen, oppositionelles Gebiet, Syrien, Wehrdienstentziehung, Asylrelevanz, Herkunftsregion, Reservist, Rückkehrgefährdung, Wehrdienstverweigerung, politische Verfolgung, Wehrpflicht, Verfolgungsgrund, Nachfluchtgründe, subsidiärer Schutz, illegale Ausreise, Flüchtlingseigenschaft, Verknüpfung, Bestrafung, unverhältnismäßige Strafverfolgung, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3b, AsylG § 3b Abs. 2, AsylG § 4, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 4, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 28, AsylG § 28 Abs. 1a,
Auszüge:

[...]

Auch unter dem Gesichtspunkt der Wehrdienstentziehung droht dem Kläger im Falle einer Rückkehr in Syrien keine politische Verfolgung. [...]

Nach Auffassung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs soll dies der Fall sein, weil jedem Wehrdienstentzieher eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellt werde (ständige Rechtsprechung Hess. VGH, u.a. Ue. v. 26.07.2018 - 3 A 403/18.A und 3 A 809/18.A). Das erkennende Gericht schließt sich dieser Auffassung nicht an und folgt insoweit der Rechtsprechung der überwiegenden Zahl der Oberverwaltungsgerichte (vgl. VGH Baden-Württemberg, U. v. 27.03.2019 - A 4 S 335/19 -; U. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 - ; OVG Berlin-Brandenburg, U. v. 12.02.2019 - OVG 3 B 27/17 -; OVG Hamburg, U. v. 11.01.2018 -1 Bf 81/17.A -; OVG Niedersachsen, U. v. 03.04.2019 - 2 LB 341/19 -; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 12.12.2018 - 14 A 667/1 8.A -; OVG Rheinland-Pfalz, U. v. 24.01.2018 - 1 A 10714117.OVG; OVG Saarland, U. v. 26.04.2018 - 1 A 543/17 -; OVG Schleswig-Holstein, U. v. 07.03.2019 - 2 LB 29/18 -; a. A. OVG Thüringen, U. v. 07.02.2018 - 3 KO 155/18 -; OVG Mecklenburg-Vorpommern, U. v. 21.03.2018 - 2 L 238/13 -; OVG Sachsen, U. v. 07.02.2018 - 5 A 1246/17.A - alle juris). [...]

Die Annahme, dass das syrische Regime all diese Männer unterschiedslos als potentielle Regimegegner betrachtet, hält das Gericht auch in Anbetracht des für das Handeln der syrischen Sicherheitsorgane kennzeichnenden Freund-Feind-Schemas nicht für gerechtfertigt. Dies gilt umso mehr, als bereits unter deutschen Verwaltungsrichtern allgemein bekannt ist, dass diese Männer durchweg angeben, dass sie geflohen sind, um sich vor den Gefahren eines unmittelbaren Kriegseinsatzes in Sicherheit zu bringen.

Wenn dies bereits unter deutschen Verwaltungsrichtern Allgemeinwissen darstellt, muss dies erst Recht dem syrischen Regime und den Sicherheitsorganen bekannt sein. Den daraus von einer Reihe von Oberverwaltungsgerichten gezogenen Schluss, es liege sozusagen für jedermann auf der Hand, dass die Flucht syrischer Wehrpflichtiger regelmäßig nichts mit politischer Opposition zum syrischen Regime zu tun habe (OVG Rheinland-Pfalz, U. v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, Rdnr. 158; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 04.05.2017 -14 A 2023/16.A - Rdnr. 70; OVG Schleswig-Holstein, U. v. 04.05.2018 - 2 LB 17/18 - Rdnr. 141; VGH Baden-Württemberg, U. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/19 - Rdnr. 40) hält das erkennende Gericht für überzeugend.

Diese Ausführungen gelten unabhängig davon, aus welchem Gebiet ein Antragsteller stammt und ob es sich dabei um eine sog. regierungsfeindliche Zone i.S.d. früheren Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs handelt (vgl. Ue. v. 06.06.2017 (3 A 3040/16.A; 3 A 255/17.A; 3 A 747/17.A). Wie das OVG Rheinland-Pfalz (U. v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -) und das OVG Münster (U. v. 04.05.2017 - 14 A 2023/16 -) mit überzeugender Begründung ausführen, ist es schlicht nicht nachvollziehbar, weshalb ein wehrpflichtiger Mann, der in einer regierungsfeindlichen Zone lebt und von dort flieht, damit zum Ausdruck bringen soll, er sei selbst ein Rebell, denn in diesem Fall würde er dort bleiben und kämpfen, während er durch seine Flucht gerade zeigt, dass er mit den Rebellen nichts zu tun haben will. [...]

Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet auch für den nicht gänzlich auszuschließenden Fall aus, dass es bei der zu erwartenden Überprüfung von nach Syrien zurückkehrenden wehrpflichtigen Männern zu Misshandlungen oder Folter kommen sollte. Angesichts der in Syrien generell herrschenden Brutalität und Willkür von Sicherheits- und Justizorganen stellt die Anwendung von Folter als solche kein gewichtiges Indiz für die politische Motiviertheit einer Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung dar (so schon OVG Schleswig-Holstein, U. v. 04.05.2018 - 2 LB 17/18 - Rdnr. 141; OVG Rheinland-Pfalz, U. v. 16.12.2016 - 1 A 10922/16 - Rdnr. 154; VGH Baden-Württemberg, U. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 - Rdnr. 41). Solche willkürliche, von den spezifischen Verfolgungsgründen des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsyIG losgelöste Handlungen der in rechtsfreien Räumen agierenden syrischen Sicherheitskräfte begründen keinen Flüchtlingsschutz, sondern werden durch die von der Beklagten erfolgte Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgedeckt. [...]