LG Kassel

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Zitieren als:
LG Kassel, Beschluss vom 02.08.2019 - 3 T 313/19 - asyl.net: M27577
https://www.asyl.net/rsdb/M27577
Leitsatz:

Die Bestellung einer Person als Verfahrenspflegerin ersetzt nicht die Ladung der anwaltlichen Vertretung:

1. Ohne vorherige Ladung der Verfahrensbevollmächtigten darf keine Haft in der Hauptsache angeordnet werden. Dies gilt auch dann, wenn stattdessen eine Person zur Verfahrenspflegerin bestellt wird.

2. Ausreichend ist, wenn die betroffene Person nur den Namen der Sozietät angibt, auch wenn dieser mehrere Anwält*innen angehören, sowie Anschrift und Telefonnummer. Ist ein telefonischer Kontaktversuch erfolglos und existiert keine Faxnummer, muss die Ladung postalisch erfolgen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Prozessbevollmächtigte, Verfahrenspfleger, Telefonanruf, Anhörung, Haftbeschluss, Rechtswidrigkeit, Überstellungshaft, Rechtsanwalt, Terminsladung,
Normen: GG Art. 20 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 28 Abs. 2, ZPO § 80,
Auszüge:

[...]

Das Amtsgericht hat gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen. Ein Verfahrensbevollmächtigter ist bestellt, wenn er selbst oder die Partei bzw. der Beteiligte die Vollmacht dem Gericht oder im Fälle der Parteizustellung dem Gegner formlos, auch durch schlüssiges Handeln, mitgeteilt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2011 - V ZB 73/11, FGPrax 2012, 83 Rn.10). Hat die vertretene Partei oder ihr Vertreter im Zivilprozess dem Gegner das Bestehen einer Prozessvollmacht zur Kenntnis gegeben, kann auch durch eine Anzeige des Prozessgegners, etwa im Rubrum der Klageschrift, ein Bevollmächtigter "bestellt" werden (MüKoZPO/Häublein, 5. Aufl. 2016, ZPO § 172 Rn. 5). Für den hier vorliegenden Fall, dass der Antragsteller in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit dem Gericht in der Antragsschrift mitteilt, dass für den Antragsgegner ein Verfahrensbevollmächtigter bestellt ist, gilt nichts anderes. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer in der Anhörung erklärt hat, dass "alles andere, was im Antrag der Behörde dargestellt ist, [zutrifft]". Spätestens hier hat sich der Beschwerdeführer die Rechtsbehauptung in der Antragsschrift - dass er von der genannten Rechtsanwaltskanzlei vertreten werde - zu eigen gemacht. Rechtlich ist auch nichts dagegen zu erinnern, dass in der Vollmacht vom 21.2.2019 nur die Sozietät - der ausweislich des Briefkopfes der Beschwerdeschrift nicht drei, sondern zwei Rechtsanwältinnen angehören, nachdem Rechtsanwalt Waldmann-Stocker zum 1.1.2019 ausgeschieden ist - genannt wird. Dies ist rechtlich zulässig (BeckOK ZPO/Piekenbrock, 33. Ed. 1.7.2019, ZPO § 80 Rn. 10) und ändert nichts an der Verpflichtung, dem Beschwerdeführer die Anwesenheit seiner Bevollmächtigten zu ermöglichen. [...]

Es ist primäre Aufgabe des Gerichts, die Rechtmäßigkeit des gerichtlichen Verfahrens zu gewährleisten. Hierzu gehört es auch, die Beteiligten zu einem gerichtlich angeordneten Anhörungstermin zu laden und die von den Beteiligten bevollmächtigten Rechtsanwälte zu unterrichten. Es handelt sich hierbei um grundlegende Maßnahmen, die der Gewährung grundrechtlicher Verfahrensgarantien dienen. Das Freiheitsentziehungsverfahren erfordert dabei eine besondere Sorgfalt und eine faire Verfahrensgestaltung.

Selbst wenn man unterstellt, dass eine Recherche nach einer Faxnummer erfolglos geblieben wäre, dass die Verfahrensbevollmächtigte per Fax ebenfalls nicht mehr rechtzeitig hätte geladen werden können oder dass gar keine Faxnummer existiert, hätte das Amtsgericht die Anhörung nicht ohne die Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers durchführen dürfen. Die Anschrift der Anwaltskanzlei ergibt sich aus dem Antrag vom 2019, daher hätte das Amtsgericht die Verfahrensbevollmächtigte jedenfalls postalisch zu dem Termin laden müssen. Dann wäre zwar keine Anhörung mehr am selben Tag möglich gewesen, die Zwischenzeit wäre aber durch den Erlass einer - hilfsweise beantragten -- einstweiligen Anordnung zu überbrücken gewesen.

Dieser Verfahrensfehler wurde schließlich auch nicht dadurch geheilt, dass das Amtsgericht dem Beschwerdeführer einen Verfahrenspfleger zur Seite gestellt hat. Der Beschwerdeführer hat ein Recht darauf, sich von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen. Das Amtsgericht konnte auch nicht davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer auf den Beistand seiner Wahlanwältin verzichten wollte, als er sich mit der Bestellung des Verfahrenspflegers einverstanden erklärte. An einen solchen Verzicht sind strenge Anforderungen zu stellen (BGH, Beschl. v. 20.5.2016 - V ZB 140/15). Diese Anforderungen sind nicht erfüllt. Um von einem wirksamen Verzicht ausgehen zu können, hätte dem Beschwerdeführer erläutert werden müssen, dass er, unabhängig von einer Bestellung des Verfahrenspflegers, ein Recht auf die Anwesenheit seiner Verfahrensbevollmächtigten hat. Dies ist nach dem Inhalt des Anhörungsprotokolls nicht geschehen. [...]