VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 07.03.2019 - M 22 K 17.48782 - asyl.net: M27622
https://www.asyl.net/rsdb/M27622
Leitsatz:

Widerruf aufgrund der bloßen Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Syrien rechtswidrig:

Die bloße Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (hier: Ahrar al-Scham) in Syrien und eine entsprechende Verurteilung in Deutschland zu vierjährigen Freiheitsstrafe führt nicht automatisch zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AsylG. Es kommt insbesondere auf die konkreten Beteiligungshandlungen im Einzelfall an.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Ausschlussgrund, terroristische Vereinigung, Syrien, Ahrar al-Sham, Rücknahme, schwere nichtpolitische Straftat, Strafe, Verurteilung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AsylG § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 60 Abs. 8, AsylG § 73 Abs. 1 S. 1, AsylG § 73 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

44 Die Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg, da der Bescheid, soweit er angefochten wurde, rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 VwGO). Die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme der dem Kläger zuerkannten Flüchtlingseigenschaft sind im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der Kammer (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) nicht gegeben. [...]

52 2.1 Die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG findet auf Handlungen Anwendung, die nach internationalem Recht als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen sind. [...]

55 Allein die aktive Teilnahme eines Kämpfers einer organisierten bewaffneten Gruppe an einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt im vorbeschriebenen Sinne erfüllt damit nicht schon den Tatbestand eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, denn das in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG rezipierte Völkerstrafrecht enthält - wie das dadurch sanktionierte Humanitäre Völkerrecht - hinsichtlich des nicht internationalen bewaffneten Konflikts nur modale Regelungen für eine Auseinandersetzung, pönalisiert jedoch nicht die Gewaltanwendung gegen Kämpfer der gegnerischen Partei als solche (was aber die Zulässigkeit einer Strafbarkeit entsprechender Handlungen nach nationalem Recht unberührt lässt, siehe dazu unter 2.2). [...]

57 2.2 Das Vorliegen des Ausschlussgrundes nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG setzt voraus, dass schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Betreffende vor seiner Einreise in das Bundesgebiet eine schwere nicht politische Straftat begangen, zu einer solchen Tat angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt hat. Als schwere Straftaten in diesem Sinne sind unter anderem terroristische Handlungen anzusehen, die durch ihre Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung gekennzeichnet sind, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt werden (vgl. EuGH, U.v. 9.11.2010 - C-57/09 und C-101/09 - juris Rn. 81). Allerdings rechtfertigt allein der Umstand, dass eine Person einer Organisation angehört, die terroristische Handlungen zu verantworten hat und sie den bewaffneten Kampf dieser Organisation aktiv unterstützt hat, nicht automatisch die Annahme eines Ausschlussgrundes nach dieser Vorschrift. Es bedarf vielmehr in jedem Einzelfall einer Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, um zu ermitteln, ob die von der Organisation begangenen Handlungen als schwere nichtpolitische Straftaten im Sinne des Ausschlussgrundes einzustufen sind und ob der betreffenden Person eine individuelle Verantwortung für die Verwirklichung dieser Handlungen zugerechnet werden kann (BVerwG, U.v. 7.7.2011 - 10 C 26.10 - juris Rn. 35). [...]

63 2.4 Nach diesen Maßgaben kann nicht angenommen werden, dass in der Person des Klägers Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 2 AsylG vorliegen. [...]

65 Die Beteiligungshandlungen, aufgrund derer der Kläger wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach § 129b StGB und wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz verurteilt wurde (die Mitgliedschaft in der Gruppe als solche und insbesondere die bewaffneten Wachdienste vor Krankenhäusern und am Belagerungsring um den Flughafen Kuwairis sowie dem ISIS-Stützpunkt in Manbij nebst dem Einsatz in Vorbereitung der Eroberung der Stadt Maskana), die er im Strafverfahren auch eingeräumt hat, sind aber ausschließlich solche, die nach den Regelungen des internationalen Strafrechts nicht pönalisiert sind, weil der Kläger insoweit im Rahmen eines nicht internationalen bewaffneten Konflikts als Mitglied einer organisierten bewaffneten Gruppe gehandelt hat und die Tathandlungen weder dem Art. 7 noch Art. 8 Abs. 2 Buchst. c und e IStGH-Statut unterfallen. Damit fehlt es in Bezug auf diese Handlungen für sich betrachtet an schwerwiegenden Gründen für die Annahme, dass ein Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und auch nach Nr. 2 AsylG gegeben ist. Da die abgeurteilten Handlungen sich weder als Kriegsverbrechen noch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, können sie auch nicht als schwere nicht politische Straftat eingestuft werden.

66 Der Umstand, dass der Gruppierung Ahrar al-Sham als solcher gravierende Menschenrechtsrechtsverletzungen vorgeworfen werden, die sich als Kriegsverbrechen darstellen dürften bzw. als terroristische Straftaten und damit auch als schwere nichtpolitische Straftat zu werten wären (zur Offensive gegen alawitische Dörfer in der Provinz Latakia im August 2013 und zum Beschuss der Orte Nubul und Zahra zwischen Juli 2013 und September 2015 und die Entführung von Zivilisten aus Zahra vgl. Urteil des OLG München vom 19.9.2017, S. 44 f.) rechtfertigt nach den Umständen des Falles gleichfalls keinen Ausschluss des Klägers von der Flüchtlingseigenschaft nach Maßgabe des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 AsylG und des Weiteren auch nicht nach Nr. 3 der Bestimmung. [...]

68 Für eine konkrete Beteiligung des Klägers an Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. schweren nicht politischen Straftaten in eigener Person, die einen Ausschluss der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 AsylG zur Folge hätten, fehlt es danach an hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten. Die allgemeine Förderung der Ziele und Aktivitäten der Gruppe (auch durch Belagerungs- und Wacheinsätze) während der mehrmonatigen aktiven Mitgliedschaft in dieser reicht hierfür nicht aus, zumal der Kläger nach seinen unwiderlegten Angaben aus seinem Gewehr nur Probeschüsse abgegeben und nicht auf Personen geschossen hat. Weiter verbietet sich auch die Einschätzung, eine individuelle Verantwortung für von der Gruppe begangene den Flüchtlingsschutz ausschließende Straftaten könne vermutet werden, weil dies voraussetzen würde, dass der Kläger entweder eine herausgehobene Position in der Gruppe innegehabt hat oder sonst Hinweise für eine Beteiligung an einschlägigen Handlungen vorliegen, müssten (vgl. EuGH, U.v. 9.11.2010 - C-57/09 und C-101/09 - NVwZ 2011, 285 Rn. 87 ff.). Auch dafür ist aber nichts ersichtlich. [...]

70 3. Der Widerruf bzw. die Rücknahme kann auch nicht darauf gestützt werden, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (obwohl der Kläger Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG ist) bereits zum Zeitpunkt der Zuerkennung nicht vorgelegen hätten bzw. später entfallen wären, weil der Kläger aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen wäre oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeuten würde, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schwerwiegenden Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist (§ 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG). Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG nicht vor. [...]

74 3.2 Das durch die 1. Alternative des Abs. 8 Satz 1 geschützte Rechtsgut ist die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. [...]

75 Die von ihm in der Vergangenheit begangenen; durch Urteil des OLG München abgeurteilten Taten belegen schon keine vom Kläger ausgehenden gefährlichen Aktivitäten auf deutschem Boden. Insoweit fehlt es also an einer einschlägigen Anlasstat mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland. Der anderweitig nicht vorbestrafte Kläger wurde ausschließlich für eine in Syrien im Zusammenhang mit einer außereuropäisch agierenden Vereinigung begangenen Straftat verurteilt, die wie ausgeführt für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft unschädlich ist und keine spezifisch terroristischen Handlungen (insbes. Angriffe auf die Zivilbevölkerung) zum Gegenstand hatte. [...]

76 Darüber hinaus ist es für das Gericht im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse weder beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger die (nur in Syrien agierende) Ahrar al-Sham erneut unterstützen wird, noch dass er sich einer dschihadistische Vereinigung mit Bezügen zu Europa anschließen wird. [...]

79 3.3 Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG liegen nicht vor.

80 Der Kläger wurde zwar vom OLG München eines Verbrechens für schuldig befunden und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, in die Einzelstrafen von mindestens drei Jahren Eingang gefunden haben (zu diesem Erfordernis vgl. BVerwG, U.V. 31.1.2013 - 10 C 17.12 - juris Rn. 16 f). Jedoch handelt es sich bei der vom OLG München abgeurteilten Tat um keine Tat, die Anlass gibt, von Gefahren für den Aufnahmestaat auszugehen. Der anderweitig nicht vorbestrafte Kläger wurde ausschließlich für die aktive Teilnahme an einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in Syrien im Zusammenhang mit einer außereuropäisch agierenden Vereinigung verurteilt, die wie oben ausgeführt keinen Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AsylG (entspricht Art. 1 F Buchst. b GFK) zur Folge hat. [...]