VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 29.08.2019 - 31 L 398.19 A - asyl.net: M27627
https://www.asyl.net/rsdb/M27627
Leitsatz:

Keine fiktive Stattgabe des Ersuchens nach Dublin-VO bei Anforderung von Beweismitteln:

1. Die Zustimmungsfiktion des Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO bei der Antwort auf ein Wiederaufnahmeersuchen tritt nur ein, wenn innerhalb der Frist für die Antwort überhaupt keine Rückmeldung des ersuchten Mitgliedsstaats erfolgt. Rügt dieser also innerhalb der Frist die unterbliebene Übersendung des EURODAC-Fingerabdruckvergleichs, tritt die Zustimmungsfiktion nicht ein.

2. Ob die Antwort-Frist mit der Übersendung der angeforderten Unterlagen erneut zu laufen beginnt, war nicht entscheidungserheblich. Denn im vorliegenden Fall wäre dann die Zustimmungsfiktion erst nach Erlass des Dublin-Bescheids erfolgt. Eine Überstellungsentscheidung darf jedoch erst dann erlassen werden, wenn der ersuchte Mitgliedsstaat der Überstellung ausdrücklich zugestimmt hat oder die Zustimmungsfrist verstrichen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Zustimmungsfiktion, Beweismittel, Wiederaufnahmegesuch, EURODAC, Frist, Dublin III-Verordnung, Remonstration,
Normen: VO 604/2013 Art. 25 Abs. 2, VO 1560/2003 Art. 5, VO 1560/2003 Art. 5 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

3. Einer Überstellung steht jedoch entgegen, dass die Italienische Republik der Wiederaufnahme (jedenfalls) vor Erlass des Bescheides vom 24. Juni 2019 nicht zugestimmt hat.

Der ersuchte Mitgliedstaat ist gemäß Art. 25 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO verpflichtet, über die Wiederaufnahme spätestens innerhalb eines Monats, nachdem er mit dem Gesuch befasst worden ist, zu entscheiden. Diese Frist verkürzt sich nach Art. 25 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO auf zwei Wochen, wenn der Antrag auf Angaben aus dem Eurodac-System gestützt wird. Erkennt der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit an, hat er dies gemäß Art. 6 Dublin-DVO - (Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Dublin-III-VO i.d.F. der Änderungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 vom 30. Januar 2014 - in seiner Antwort zu erklären. Wird innerhalb der Fristen des Art. 25 Abs. 1 Dublin-III-VO keine Antwort erteilt, so ist nach der Zustimmungsfiktion des Art. 25 Abs. 2 Hs. 1 Dublin-III-VO davon auszugehen, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird. Ein ersuchter Mitgliedstaat, der sich auf Grundlage der vorgelegten Unterlagen für nicht zuständig hält, hat dies gemäß Art. 5 Abs. 1 Dublin-DVO in seiner ablehnenden Antwort zu erläutern. Hält der ersuchende Mitgliedstaat dies für fehlerhaft oder kann er sich auf weitere Unterlagen berufen, so ist er gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und 2 Dublin-DVO berechtigt, binnen drei Wochen eine neuerliche Prüfung seines Gesuchs zu verlangen. Eine solche Remonstration hat der ersuchte Mitgliedstaat gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und 2 Dublin-DVO binnen zwei Wochen zu beantworten.

Eine ausdrückliche Zustimmung hat Italien zu keinem Zeitpunkt erteilt. Jedenfalls bis zum Erlass des Bescheides am 24. Juni 2019 lag auch keine fiktive Zustimmung vor.

Für eine fiktive Zustimmung gemäß Art. 25 Abs. 2 Hs. 1 Dublin-III-VO genügt es nicht, dass der Überstellung innerhalb der einschlägigen Frist - die vorliegend zwei Wochen betrug, weil im Formular die Eurodac-Nummer angegeben war - nicht ausdrücklich widersprochen wird. Voraussetzung ist vielmehr, dass innerhalb der Frist überhaupt "keine Antwort" erteilt wird. Dass die Fiktion an das vollständige Ausbleiben einer Reaktion des ersuchten Mitgliedsstaat anknüpft, stellt keine sprachliche Ungenauigkeit der deutschen Fassung dar, sondern wird auch in anderen Sprachfassungen der Dublin-III-Verordnung vorausgesetzt (niederländisch "zonder reactie", englisch "failure to act", französisch "absence de reponse" italienisch "assenza di risposta"). Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass das völlige Ausbleiben einer Reaktion keinen Rückschluss auf den Willen des ersuchten Mitgliedsstaates zulässt, wohingegen der ersuchte Mitgliedsstaates mit einer aktive Reaktion, die keine Zustimmung beinhaltet, nach außen manifestiert, dass er eine solche jedenfalls noch nicht erteilen will.

Dass die italienische Dublin-Einheit am 10. Juni 2019 die (entgegen Art. 2 UAbs. 2 Dublin-DVO) unterbliebene Übersendung des EURODAC-Fingerabdruckvergleichs gerügt hatte, verhinderte daher den Eintritt einer fiktiven Zustimmung zwei Wochen nach Absendung des förmlichen Übernahmeersuchens vom 7. Juni 2019. mithin mit Ablauf des 21. Juni 2019.

Ob die Zweiwochenfrist nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO mit der nachfolgende Übersendung der angemahnten Unterlagen durch das Bundesamt am 12. Juni 2019 erneut zu laufen begann - was voraussetzen würde, dass es weder eines erneuten förmlichen Überstellungsersuchens bedurfte noch aufgrund der italienische Reaktion bereits ein Remonstrationsverfahren gemäß Art. 5 Abs. 2 Dublin-DVO durchzuführen war - bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Denn dies unterstellt wäre die fiktive Zustimmung erst mit Ablauf des 25. Juni 2019 und damit erst nach Erlass des Bescheides vom 24. Juni 2019 erfolgt.

Eine Überstellungsentscheidung darf jedoch erst dann erlassen werden, nachdem der um Aufnahme oder Wiederaufnahme ersuchte Mitgliedstaat der Überstellung ausdrücklich zugestimmt hat oder die Zustimmungsfrist verstrichen und deshalb von einer stillschweigenden Zustimmung auszugehen ist (EuGH, Urteil vom 31. Mai 2018, C-647/16, juris Rn. 39 ff.) Denn solange dies nicht der Fall Ist, besteht die Möglichkeit, dass der ersuchte Staat die Wiederaufnahme ablehnt, weil er über weitere Beweise oder Erkenntnismittel verfügt oder die Umstände anders bewertet als der ersuchte Staat (EuGH a.a.O. Rn. 61-63). [...]