AG Stuttgart

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Zitieren als:
AG Stuttgart, Beschluss vom 02.10.2019 - 529 XIV 1213/19 B - asyl.net: M27676
https://www.asyl.net/rsdb/M27676
Leitsatz:

Keine Anordnung von Ausreisegewahrsam bei psychisch erkrankter Person: 

Der Haftantrag wird abgelehnt. Trotz Vorliegen von Gewahrsamsgründen gemäß § 62b Abs. 1 AufenthG (hier: Ablauf der Ausreisefrist, Durchführbarkeit der Abschiebung und strafrechtlicher Verurteilung) ist nicht davon auszugehen, dass der Betroffene die Abschiebung aus eigenem Antrieb vereiteln oder erschweren wird, da er aufgrund seiner psychischen Erkrankung hierzu überhaupt nicht in der Lage ist.

(Leitsätze der Redaktion; Anm.: Das Gericht mahnt zudem die Unvereinbarkeit der Abschiebung einer psychisch kranken und behandlungsbedürftigen Person unter Zurücklassung der gesamten Kernfamilie im Bundesgebiet mit der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG an.)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebung, Abschiebungshaft, psychische Erkrankung, alleinstehend, Menschenwürde, Menschenwürde, pflegebedürftig, Ausreisegewahrsam,
Normen: AufenthG § 62b Abs. 1 Nr. 3d, GG Art. 1 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Zwar ist die dem Betroffenen eingeräumte Frist zur Ausreise abgelaufen (§ 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG n.F.) Auch könnte die Abschiebung grundsätzlich binnen zehn Tagen durchgeführt werden (§ 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG n.F.). Ferner hat der Betroffene die Ausreisefrist bereits um mehr als 30 Tage überschritten (§ 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3d AufenthG n.F.) und er wurde wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat zu einer Geldstrafe von über 50 Tagessätzen - nämlich am ... 2012 vom Amtsgerichts ... wegen Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10,00 Euro - verurteilt (§ 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3c AufenthG n.F.).

Jedoch ist trotz dieser Umstände vorliegend nicht ernsthaft zu erwarten, dass der Betroffene aus eigenverantwortlichen Antrieb heraus seine Abschiebung erschweren oder vereiteln will. Der Betroffene hat bis zu seiner Festnahme mit seinen Geschwistern im Haushalt seiner Eltern gelebt. Seinen drei Geschwistern wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, auch die Eltern haben keine Abschiebung zu befürchten. Abgesehen davon, dass der Betroffene seiner Verpflichtung zur Ausreise über einen langen Zeitraum nicht nachgekommen ist und im Zusammenhang mit seiner Einreise vor über sieben Jahren eine Straftat begangen hat, liegen keine Anhaltspunkte vor, die es als wahrscheinlich erscheinen lassen, dass der Betroffene sich aufgrund eigenverantwortlicher Entscheidung seiner Abschiebung entziehen will. Ob der debile und psychisch kranke Betroffene eigenverantwortlich überhaupt einen derartigen Willen bilden kann, ist schon angesichts der vorgelegten ärztlichen Befunde zu bezweifeln. Dieser Eindruck hat sich nach Anhörung des Betroffenen nicht nur bestätigt, sondern noch verstärkt. Der Betroffene ist intellektuell offensichtlich nicht in der Lage, die Thematik der Anhörung und die Auswirkungen einer antragsgemäßen Entscheidung auf ihn ausreichend zu erfassen, was vor dem Hintergrund seiner psychischen Beeinträchtigungen durchaus nachvollziehbar ist. Insbesondere die ärztliche Behandlungsbedürftigkeit seiner psychischen Erkrankung und seine auch diesbezüglich notwendige familiäre Anbindung spricht gegen die Annahme, der Betroffene werde seine Abschiebung erschweren oder vereiteln.

Angesichts des ärztlichen Befunds vom ... 2019 ist zudem zu bezweifeln, dass der Betroffene unter den gegebenen Umständen am 08.10.2019 überhaupt reisefähig sein wird. Soweit die Behörde - nicht im Antrag, sondern erst auf entsprechende Nachfrage des Gerichts, nachdem durch den Rechtsbeistand auf die Erkrankung des Betroffenen hingewiesen worden war - ergänzend vorgetragen hat, die als Sammelmaßnahme geplante Abschiebung werde ärztlich begleitet und der Betroffene werde in seinem Heimatland durch einen Arzt in Empfang genommen, genügt nach Auffassung des Gerichts nicht, um den spezifischen Bedürfnissen des Betroffenen Rechnung zu tragen. Daher ist anzunehmen, dass die Abschiebung des Betroffenen in der geplanten Form nicht durchführbar sein wird. [...]

Abschließend erlaubt sich das Gericht noch die Anmerkung, dass die Abschiebung eines debilen und psychisch hochgradig kranken und behandlungsbedürftigen Menschen, der nicht nur vorübergehend auf ärztliche Hilfe und familiäre Unterstützung angewiesen ist, in ein Kriegs- und Krisengebiet unter Zurücklassung seiner gesamten Kernfamilie im Bundesgebiet bei allem Verständnis für berechtigte ordnungs- und sicherheitspolitische Belange unter dem Gesichtspunkt der Unantastbarkeit der Menschenwürde im Sinne von Artikel 1 Abs. 1 GG jedenfalls unter den gegebenen Umständen kaum nachvollziehbar ist. [...]