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VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 11.06.2019 - 7 L 436/19.A - asyl.net: M27694
https://www.asyl.net/rsdb/M27694
Leitsatz:

Mögliches Abschiebungsverbot nach Afghanistan wegen schwerer psychischer Erkrankung:

1. Aufgrund der schweren psychischen Erkrankung besteht die Gefahr eines Suizids im Zusammenhang mit der Abschiebung. Auch bei guter medikamentös-psychiatrischer Behandlung drohen bei Verbringung nach Afghanistan wiederkehrende depressive Entgleisungen, eine Chronifizierung mit zunehmender Häufigkeit depressiver Episoden sowie Lebensgefahr und eine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit. 

2. Aufgrund dieser fachärztlichen Diagnose ist es möglich, dass auch bei einer Möglichkeit der Behandlung in Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG besteht.

(Leitsätze der Redaktion; Anm.: Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz; widerspricht ausdrücklich den Ausführungen im aufenthaltsrechtlichen Verfahren zum selben Fall: VG Potsdam, Beschluss vom 10.05.2019 - 8 L 860/18 - asyl.net: M27379)

Schlagwörter: Afghanistan, Reiseunfähigkeit, psychische Erkrankung, Suizidgefahr, Abschiebungsverbot, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist unter anderem gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung voraussichtlich wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde (VG München a.a.O. unter Verweis auf BayVGH, Beschluss vom 28. Oktober 2013 - 10 CE 13.2257 - BeckRS 2013, 58911) und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Bei einer psychischen Erkrankung, wie sie hier in Rede steht, kann vom Vorliegen eines inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses im genannten Sinn außer in Fällen einer Flugreise- bzw. Transportuntauglichkeit im engeren Sinne nur dann ausgegangen werden, wenn entweder im Rahmen einer Abschiebung die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Ausländers droht, der auch nicht durch ärztliche Hilfen oder in sonstiger Weise wirksam begegnet werden kann, oder wenn dem Ausländer unmittelbar durch die Abschiebung bzw. als mittelbare Folge davon konkret eine erhebliche und nachhaltige Verschlechterung des Gesundheitszustands droht, die allerdings - in Abgrenzung zu zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen - nicht wesentlich (erst) durch die Konfrontation des Betreffenden mit den Gegebenheiten im Zielstaat bewirkt werden darf (vgl. VG Magdeburg, Beschluss vom 15. Juli 2015 - 9 B 624/15 -, juris).

Im vorliegenden Fall erläutern die den Antragsteller behandelnde Ärztin der Psychiatrischen Universitätsklinik der ... im fachärztlichen Attest vom ... 2019, bei Gericht eingegangen am 3. Juni 2019, und die Ärzte im endgültigen Entlassungsbrief des ... Fachklinikums ... vom ... 2019, eingegangen bei Gericht am 5. Juni 2019, unter Angabe entsprechender Diagnosen nach der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10), dass bei dem Antragsteller rezidivierend depressive Episoden, gegenwärtig schwer ausgeprägt, rückläufig, F33.2 und eine posttraumatische Belastungsstörung, F43.1 bzw. eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome F33.2 vorliegen und dass eine erneute Suizidhandlung hochwahrscheinlich sei und eine Weiterführung der Medikation zur Rückfallprophylaxe für weitere zwei Jahre empfohlen werde. Weiter sei davon auszugehen, dass der Antragsteller durch das Verbringen nach Afghanistan auch bei guter medikamentös-psychiatrischer Behandlung mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit als in Deutschland immer wieder depressiv entgleisen und eine Chronifizierung mit zunehmender Häufigkeit von depressiven Episoden auch wahrscheinlicher werde, was neben einer Verminderung der Lebensqualität eine Lebensgefahr und eine überwiegende oder dauerhafte Arbeitsunfähigkeit bedeuten würde. Aufgrund dieser Einschätzungen ist zwar nicht von der Transportunfähigkeit (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne) des Antragstellers auszugehen, wohl aber davon, dass die Abschiebung als solche eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne; vgl. VG München a.a.O. m.w.N.). Diese Berichte erfüllen im Übrigen nach dem im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und gebotenen Prüfungsumfang zur Überzeugung des Gerichts die Voraussetzungen einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c Aufenthaltsgesetz (AufenthG), die die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit des Antragstellers widerlegt. [...]