VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 24.06.2019 - 1 K 599/18 Me - asyl.net: M27740
https://www.asyl.net/rsdb/M27740
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine Iranerin, die vor ihrem gewalttätigen Ehemann geflohen ist:

1. Häuslicher Gewalt liegt dann ein Verfolgungsgrund gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zugrunde, wenn der Ehemann oder Partner die Gewalt wegen der geschlechtsspezifischen Rolle der Frau ausübt und sie damit Ausdruck des männlichen Dominanzverhaltens ist.

2. Der iranische Staat ist in der Regel bereits nicht willens, Frauen in solchen Fällen Schutz zu bieten.

3. Eine interne Schutzalternative steht betroffenen Frauen im Iran ebenfalls nicht offen. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass keine Scheidung erfolgte, da verheiratete Frauen nicht getrennt von ihrem Ehemann ein eigenständiges Leben führen können.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Frauen, häusliche Gewalt, familiäre Gewalt, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, geschlechtsspezifische Verfolgung, soziale Gruppe, Flüchtlingsanerkennung, interner Schutz, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG kann, wie dargelegt, auch dann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Der Begriff des "Geschlechts" verweist hier auf den sozialen Geschlechterbegriff (gender) und bezeichnet die Beziehungen zwischen Frauen und Männern auf der Grundlage gesellschaftlich oder kulturell üblicher oder definierter Identitäten (Marx, AsylG, Kommentar. 9. Auflage 2017, § 3b Rdnr. 26). Bei häuslicher Gewalt, also Gewalt von Familienangehörigen oder von mit der Frau zusammenlebenden Personen ist gemeinsames Merkmal der sozialen Gruppe die soziale, kulturelle und entsprechend geprägte familiäre Situation der Frauen. Sie zielt darauf, Gefolgschaft der betroffenen Frau zu erzielen und deren konkrete Lebensführung in einer Weise zu begrenzen, die ein frei bestimmtes Denken und Handeln unterbindet. Es geht um sexuelle und vergleichbare Formen von Gewalt gegen Frauen, die die Herrschaftsverhältnisse zwischen Männern und Frauen wiederherstellt und ausnutzt (zu allem: Marx, AsylG, Kommentar, 9. Auflage 2017, § 3b Rdnr. 32). Der Ausübung häuslicher Gewalt liegt daher dann ein Verfolgungsgrund zugrunde, wenn der Ehemann oder Partner die Gewalt wegen der geschlechterspezifischen Rolle der Frau ausübt, sie also nicht "schlicht" mit Frust und Ärger einhergeht, sondern Ausdruck des männlichen Dominanzverhaltens ist (Marx, AsvlG, Kommentar, 9. Auflage 2017, § 3b Rdnr. 33).

Diese Voraussetzungen sind im Fall der Klägerin erfüllt. Aus ihren Schilderungen ergibt sich deutlich, dass sie Opfer der kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten des - trotz des offenbar in Ansätzen vorhandenen Aufbegehrens einiger vom gesellschaftlichen Stand her begünstigter Frauen - strikt patriarchalisch geprägten Denkens im Iran geworden ist. Entgegen der Ansicht der Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung, die erklärt hatte, ihres Erachtens sei die vom Ehemann der Klägerin ausgeübte Gewalt vielmehr Ausdruck allgemeinen Frusts und Ärgers gewesen, sieht das Gericht hier ein klares Dominanzverhalten eines iranischen Mannes, der offenbar mit einer Ehefrau überfordert war, die bereits vor der Ehe ein mehr oder weniger selbst bestimmtes Leben geführt hat; der Umstand. dass sie über einen nicht unbedeutenden Grad an Bildung verfügt, einem Beruf nachgegangen ist und sich auch ansonsten, etwa mittels Kleidung oder Freizeitaktivitäten, individuell zum Ausdruck gebracht hat. Die Klägerin gab immer wieder an, ihr Mann habe sie während der Misshandlungen darauf hingewiesen. sie solle sich in ihre Rolle fügen; er sei sehr traditionell gewesen und habe von ihr verlangt, ihm zu gehorchen. Dass sie zugleich schilderte, er sei übermäßig eifersüchtig gewesen, steht denn überhaupt nicht entgegen, da auch dies einmal mehr zum Ausdruck bringt, dass er sich offenbar als von seiner Ehefrau vorgeführt und seine ihm gebührende Rolle in Gefahr sah. Das Gericht hat im Ergebnis überhaupt keine Zweifel daran, dass die häusliche Gewalt im vorliegenden Fall gendermäßigen Gesichtspunkten entsprang.

Das Gericht ist auch davon überzeugt. dass die Klägerin, die vorliegend ausschließlich durch einen privaten Akteur (§ 3c Nr. 3 AsylG) - ihren Ehemann - Verfolgung i.S.d. § 3a AsylG erlitten hat, beim iranischen Staat keinen Schutz gefunden hat bzw. hätte. Dieser ist nach der bestehenden Erkenntnislage nämlich bereits in der Regel nicht willens, Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt werden, Schutz zu bieten. [...]

Der Klägerin stand und steht auch keine interne Schutzmöglichkeit zur Verfügung (vgl. § 3e AsylG). Dies gilt schon deshalb, weil eine Ausweichmöglichkeit für Frauen generell verneint wird (vgl. Auswärtiges Amt. a.a.O., S. 18). Da es ihr zudem nicht gelungen war, die Scheidung zu erlangen - und im Übrigen in ihrem konkreten Fall auch nicht davon auszugehen ist, dass ihr das bei Rückkehr gelingen würde - kann sie als verheiratete Frau nicht getrennt von ihrem Ehemann ein eigenständiges Leben führen. Nach den benannten Erkenntnissen hat der Mann nach wie vor die Verfügungsgewalt über sie und könnte diese zweifelsfrei auch mit staatlicher Hilfe durchsetzen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich ihre Stellung und Situation durch den - aus islamischer Sicht - "ehelichen Ungehorsam" mittels Flucht in das (westliche) Ausland nicht zu ihrem Vorteil verbessert haben dürfte. Soweit die Frage nach einer befürchteten bevorstehenden (erneuten) Verfolgung im Raum steht, ist nach ihren Angaben und Schilderungen von der Person ihres Ehemannes sogar davon auszugehen, dass ihr der Tod droht. [...]