VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 03.06.2019 - A 17 K 13749/17 - asyl.net: M27849
https://www.asyl.net/rsdb/M27849
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen homosexuellen Mann aus Kamerun:

Zwar unterliegen homosexuelle Personen in Kamerun keiner Gruppenverfolgung, allerdings kann im Einzelfall bei offenem Ausleben der Homosexualität ein Verfolgungsrisiko von staatlicher Stelle bestehen.

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Kamerun, homosexuell, Strafbarkeit, Flüchtlingsanerkennung, Strafbarkeit, Haft, LSBTI, LGBTIQ,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

II. Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg. Der Kläger hat im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Hs. AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind vorliegend erfüllt. Der Kläger ist Angehöriger einer "sozialen Gruppe" im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG i.V.m. Art. 10 Abs.-1 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU (unter a.) und ihm droht aus diesem Grund von staatlicher Seite Verfolgung im Sinne des § 3a AsylG (unter b.). Das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative ist nicht ersichtlich (unter c.). [...]

Es ist davon auszugehen, dass Homosexuelle in Kamerun als eine "soziale Gruppe" anzusehen sind (VGH Baden-Württemberg, Urteil vorn 07.03.2013 - A 9 S 1872/12 -, juris Rn. 34ff.). Das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle treffen, erlaubt bereits die Feststellung, dass Homosexuelle eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden (EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 48). In Kamerun werden homosexuelle Handlungen gemäß Art. 347-1 des kamerunischen Strafgesetzbuches mit einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren sowie Geldstrafen zwischen 30 und 300 EUR bestraft und im Einzelfall auch verfolgt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kamerun, Stand: Oktober 2018, S. 13). [...]

b. Von diesen persönlichen Verhältnissen und einem daraus abzuleitenden wahrscheinlichen Verhalten des Klägers ausgehend droht ihm von staatlicher Seite Verfolgung nach § 3a AsylG. Zwar folgt dies nicht schon allein aus seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Homosexuellen in Kamerun (unter aa.). Jedoch ist nach einer individuellen Prüfung hinsichtlich des Klägers davon auszugehen, dass ihm von staatlicher Seite flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlungen in Form diskriminierender Strafverfolgung drohen (unter bb.).

aa. Homosexuelle in Kamerun unterliegen wegen des Fehlens der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte nach derzeitiger Erkenntnislage keiner Gruppenverfolgung. [...]

bb. Das Gericht ist aber davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund seiner sexuellen Orientierung von staatlichen Stellen ernsthaft bedroht ist.

aaa. In jedem Einzelfall, in dem ein Schutzsuchender geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, bedarf es einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose. Hinsichtlich der drohenden Verfolgungsgefahr ergibt sich folgendes Bild: Bei Homosexuellen, die in Kamerun offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb als solche öffentlich bemerkbar sind, kann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass sie deswegen verfolgt werden. In diesem Fall ist von einem erheblichen Risiko auszugehen, dass sie durch den Staat strafrechtlich verfolgt und in Haft genommen sowie verurteilt werden, was eine Verfolgungsmaßnahme begründet. Zudem widersprechen die Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig den Anforderungen aus Art. 3 EMRK. Außerdem ist es beachtlich wahrscheinlich, dass Homosexuelle, die in Kamerun offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb öffentlich bemerkbar sind, auch von privater Seite Verfolgungshandlungen erleiden, wie etwa physische Gewalt, ohne dass staatliche Stellen in der Lage oder willens wären, hiervor Schutz zu bieten. Wird Homosexualität dagegen nicht öffentlich bemerkbar oder gar heimlich gelebt, ist nicht ohne Weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer drohenden Verfolgung auszugehen. Zwar kann es auch in Fällen einer im Verborgenen gelebten homosexuellen Veranlagung vereinzelt zu Verfolgungshandlungen kommen. Insoweit besteht jedoch noch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jeder homosexuelle Veranlagte, der die Veranlagung im Verborgenen lebt, eine Verfolgungshandlung erleiden wird. Zu prüfen ist vor diesem Hintergrund also, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine sexuelle Identität ist. Je mehr ein Schutzsuchender dabei mit seiner sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit tritt und je wichtiger dieses Verhalten für seine Identität ist, desto mehr erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende verfolgt werden wird. Bei der Würdigung sind das bisherige Leben des Schutzsuchenden in seinem Heimatland, sein Leben hier in Deutschland sowie sein zu erwartendes Leben bei einer Rückkehr in den Blick zu nehmen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1872/12 -, juris Rn. 55). [...]