VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 11.12.2019 - 6 L 898/19 - asyl.net: M27931
https://www.asyl.net/rsdb/M27931
Leitsatz:

Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit:

1. Haftstrafen sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich geeignet, die Kontinuität des Aufenthalts zu unterbrechen.

2. Zeiträume der Verbüßung einer Freiheitsstrafe sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich nicht zu den erforderlichen Zeiten des Mindestaufenthalts, der für die jeweilige Verfestigungsstufe gefordert ist, hinzuzurechnen.

3. Ob die Verbüßung einer Haftstrafe eine Unterbrechung der Kontinuität des Aufenthalts bedeutet, ist im Einzelfall zu beurteilen. Maßgeblich dabei ist die Situation der betroffenen Person im Zeitpunkt der Verlustfeststellung und die Frage, ob durch die Haft die geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind.

3. Die Prognose einer möglichen Wiederholungsgefahr ist für die Frage, ob die Integrationsverbindungen abgerissen sind oder nicht, nicht berücksichtigungsfähig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Verlust des Freizügigkeitsrechts, Integration, Aufenthaltsdauer, Unterbrechung, Freiheitsstrafe, Haft, Kontinuität des Aufenthalts, Unionsbürger, Freizügigkeitsrecht,
Normen: FreizügG/EU § 6 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Die Inhaftierung hat den Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland allerdings unterbrochen. Im Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Verlustfeststellung am 29.5.2019 befand er sich bereits mehrere Monate in Strafhaft.

Indessen spricht Überwiegendes dagegen, dass dies geeignet ist, dem Antragsteller die bis dahin unzweifelhaft erreichte und über viele Jahre innegehabte höchste Schutzstufe vor einer Verlustfeststellung aus § 6 Abs. 5 FreizügG/EU zu entziehen. Nach Lage der Dinge kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass durch sie die Integrationsverbindungen des Antragstellers zu Deutschland abgerissen sind. Neben der ausnehmend langen Dauer seines berechtigten Aufenthalts in Deutschland von nahezu fünf Jahrzehnten muss vorliegend berücksichtigt werden, dass er sich zur Zeit erstmalig in Strafhaft befindet. Zwar sind außer der Verurteilung vom ... 2019 vier weitere Eintragungen in seinem aktuellen Bundeszentralregisterauszug aufgeführt. Drei davon betreffen auch einschlägige, vorsätzlich begangene Straftaten aus dem Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Indessen liegen diese Verurteilungen zeitlich inzwischen schon viele Jahre zurück; die seinerzeit letzte mit Urteil vom... 2000 abgeurteilte Betäubungsmittelstraftat fand am ... 1999 statt. Alle drei Verurteilungen beliefen sich zudem lediglich auf Bewährungsstrafen. Zu einem Bewährungsbruch kam es in keinem Fall und alle drei Strafen sind nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen worden. Die vierte Eintragung betrifft zwar eine zeitnähere Straftat (..), die der Antragsteller am ... begangen hat. Indessen hat das Landgericht Saarbrücken in seinem diesbezüglichen Urteil festgestellt, dass der Antragsteller die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat. Sie kann daher nicht als Ausdruck dafür genommen werden, dass er nicht gewillt war, die im deutschen Strafrecht zum Ausdruck gebrachten Werte zu beachten. Schließlich wird das bisherige Vollzugsverhalten des Antragstellers seitens der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken als absolut hausordnungsgemäß beschrieben.

Der Umstand, dass vom Antragsteller nach derzeitigem Sachstand mit Blick auf die Einschätzung des bei den Akten befindlichen forensisch-psychiatrischen Gutachtens vom 8.11.2018, wonach bei Fortbestand der Suchterkrankung eine erhöhte Rückfallgefahr für vergleichbare strafbare Handlungen besteht, und die bislang nicht behandelte Suchterkrankung, die Gefahr wiederholter Straffälligkeit ausgeht, ist im Rahmen der Prüfung, ob die Integrationsverbindungen abgerissen sind oder nicht, nicht berücksichtigungsfähig. Bei der bislang nicht behandelten Suchterkrankung des Antragstellers handelt es sich maßgeblich um einen Umstand, der für die prognostische Einschätzung der Qualität und des Grades der von ihm künftig ausgehenden Wiederholungsgefahr von zentraler Bedeutung ist. Als Aspekt der Gefahrenprognose kann ihm aber für die Frage, welches Schutzniveau er im Rahmen des § 6 FreizügG/EU erreicht hat, aus systematischen Gründen keine Bedeutung zukommen. Eine Berücksichtigung der die Gefahrenprognose tragenden Einzelfallumstände bereits bei der zeitlichen Bestimmung der erreichten Schutzstufe würde das abgestufte Schutzsystem des § 6 FreizügG/EU unterlaufen. Dieses zeichnet sich schließlich gerade dadurch aus, dass es von der jeweiligen Schutzstufe abhängig ist, welche Anforderungen an Qualität und Ausmaß der vom betroffenen EU-Bürger ausgehenden Gefährdung zu stellen sind, damit eine Verlustfeststellung im Einzelfall gerechtfertigt sein kann. [...]